Imagica
hätten sich ihr unsichtbare Messer in den Leib gebohrt. Ein 693
solcher Kollaps durfte sich jetzt nicht wiederholen - nur dreißig oder vierzig Zentimeter trennten sie von der Öffnung des Schachtes.
»Du mußt dich den Erinnerungen stellen«, sagte Dowd.
»Sprich von ihnen. Beschreib sie. Dann geht es dir gleich besser, das versichere ich dir.«
Jude spürte, wie sich eine seltsame Schwäche in ihr ausbreitete. Dunkelheit wartete in einem fernen Winkel ihres Selbst, und die Vorstellung, eine unmittelbare Konfrontation damit herbeizuführen, weckte Grauen in ihr, erschien ihr fast ebenso schrecklich wie ein Sturz in den Schacht. Irgend etwas Entsetzliches harrte tief in ihrem Innern der Entdeckung.
Vielleicht war es besser, hier und jetzt zu sterben, nie zu erfahren, ob Dowds Behauptungen stimmten. Aber angenommen, er hatte gelogen. Angenommen, es handelte sich nur um eine Vorstellung des Schauspielers in ihm... Wenn sie kein Schatten war, keine Kopie, kein Etwas, das gehorsam und gefügig sein sollte, sondern eine normale Geburt hinter sich hatte, um anschließend als Kind normaler Eltern aufzuwach-sen, zu einer unabhängigen, mit eigenem Willen ausgestatteten Person zu werden... Dann gab sie sich aus grundloser Furcht vor dem eigenen Ich dem Tod preis und gewährte Dowd einen neuerlichen Triumph. Es gab nur eine Möglichkeit, bei diesem Duell den Sieg zu erringen: Sie mußte es darauf ankommen lassen, sich der Finsternis in ihrem Innern aussetzen, um die dort versteckten Erkenntnisse zu empfangen. Was für eine Judith auch immer sie sein mochte - sie mußte bereit sein, sich mit der entsprechenden Identität abzufinden, ganz gleich, was es damit auf sich hatte. Vor sich selbst konnte sie nicht fliehen, und daher war es besser, die Wahrheit zu akzeptieren.
Die Entscheidung entzündete eine Flamme hinter ihrer Stirn, und erste Phantome aus der Vergangenheit strichen an ihrem inneren Auge vorbei.
»Lieber Himmel...«, murmelte sie und warf den Kopf 694
zurück. »Was ist das? Was ist das?«
Sie sah sich selbst auf den Bodendielen eines leeren Zimmers. Ein Feuer brannte im Kamin, wärmte sie im Schlaf, und der flackernde Glanz glitt über ihren nackten Leib. Jemand hatte etwas auf den Körper gemalt, während sie schlief, und sie erkannte das Zeichen als jenes Symbol, das sie zum erstenmal während des Geschlechtsaktes mit Oscar gesehen hatte, dann noch einmal während des Transfers zwischen den Domänen.
Eine Hieroglyphe, die Fleisch bedeutete und sich hier auf Fleisch darbot, in sechs verschiedenen Farben. Die Schlafende bewegte sich, und Kringel schienen Substanz zu gewinnen, Spuren ihrer selbst in der Luft zurückzulassen. Kurz darauf kam eine andere Bewegung hinzu, diesmal im Kreis aus Sand, der das harte Lager der ruhenden Judith umgab. Die pulvrige Masse stieg auf, wogte dabei wie der Vorhang des Nordlichts und schimmerte in den gleichen Farben wie das Symbol. Judith glaubte, einen wesentlichen, essentiellen Bestandteil der eigenen Anatomie in der Luft des Zimmers zu erkennen, und die Schönheit des Anblicks beeindruckte sie zutiefst.
»Was siehst du?« fragte Dowd.
»Mich selbst«, antwortete sie. »Ich liege auf dem Boden... in einem Kreis aus Sand...«
»Bist du ganz sicher, dich selbst zu sehen?«
Jude wollte zunächst mit Verachtung auf diese Frage reagieren, doch dann begriff sie ihre Bedeutung. Vielleicht bin ich es gar nicht, dachte sie. Vielleicht ist es meine Schwester.
»Wie kann ich Gewißheit bekommen?« erkundigte sie sich.
»Warte nur ab«, sagte Dowd.
Und Judith beobachtete. Der Vorhang aus Sand wallte stärker, wie von einem heftigen Wind aus dem Innern des Kreises erfaßt. Partikel lösten sich daraus und funkelten in der dunklen Luft: winzige Staubkörner, die allein aus Farbe bestanden, wie Sternschnuppen blitzten und dann verblaßten, als sie auf die Beobachterin herabfielen. Jude lag jetzt neben 695
ihrer Schwester und empfing den Regen aus Farbe wie dankbarer Boden: Sie brauchte ihn, um zu wachsen, um Früchte zu tragen.
»Wer bin ich?« fragte sie und spähte durch den bunten Glanz.
Bisher hatte sie Schönheit gesehen, und was sich nun ihren Blicken darbot, verursachte einen profunden Schock. Sie sah ihren eigenen, noch unvollständigen Körper, schnappte nach Luft, schwankte am Rand des Lochs - und nur Dowds Hand verhinderte einen Sturz in die Tiefe. Eiskalter Schweiß strömte ihr aus den Poren.
»Laß mich nicht los«, sagte sie.
»Was siehst du?«
»Ist das
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