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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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eine Sache, ihrer Schwester zu erlauben, selig in den Armen eines vermeintlichen Heilands zu sterben, aber dies lief auf Selbstverstümmelung hinaus. Sie beendete ihr Schweigen.
    »Hindern Sie sie daran, sich noch mehr zu verletzen«, sagte sie.
    Dowd sah auf und hob den Zeigefinger zum Mund, um Judith aufzufordern, still zu sein. Aber es war bereits zu spät.
    Trotz ihrer Zuckungen hatte Quaisoir die Stimme der Schwester vernommen. Sie verharrte und drehte den Kopf zu der anderen Frau.
    »Wer ist das?« fragte sie.
    Zorn zeigte sich in Dowds Gesicht, doch seine Stimme klang noch immer sanft, als er versuchte, sein Opfer zu beruhigen.
    Jetzt ließ sich Quaisoir aber nicht mehr so einfach beschwichtigen.
    »Wer ist bei dir, Herr?« erkundigte sie sich.
    Mit seiner Antwort beging er einen Fehler, der die Illusion zerstörte: Er log.
    »Niemand ist hier.«
    »Ich habe die Stimme einer Frau gehört. Wie heißt sie?«
    »Du hast dich geirrt«, behauptete Dowd und legte ihr die Hand auf die Stirn. »Ruhig, ruhig. Wir sind allein.«
    »Nein, das stimmt nicht.«
    »Glaubst du etwa, daß ich dich belüge, Tochter?« Wieder veränderte sich Dowds Tonfall, und jetzt gelang es ihm, fast gekränkt zu klingen. Quaisoir entschied sich zu einer stummen Antwort: Sie griff nach der Hand an ihrer Stirn und schloß blaue, blutige Finger darum.
    »So ist es schon besser«, lobte der Pseudo-Messias.
    Quaisoir berührte die Innenfläche seiner Hand und zögerte 684

    kurz.
    »Keine Narben«, sagte sie.
    »Es wird immer Narben geben«, erwiderte Dowd mit pontifikaler Großzügigkeit.
    Aber diesmal verstand er nicht, worauf Quaisoir hinaus-wollte.
    »Es fehlen Narben an deiner Hand.«
    Dowd zog sie zurück. »Hab' Vertrauen zu mir«, forderte er Quaisoir auf.
    »Nein«, entgegnete sie. »Du bist nicht der Mann der Schmerzen.« Ihre Stimme klang jetzt nicht mehr glücklich -
    etwas Drohendes ertönte darin. »Du kannst mich nicht erlösen«, fügte sie hinzu. Ganz plötzlich trat sie um sich und schlug mit den Armen, um Dowd zu vertreiben. »Wo ist der Heiland? Bringt mich zum Heiland!«
    »Er ist nicht hier«, sagte Judith. »Er war es nie.«
    Erneut wandte sich Quaisoir zu ihr. »Wer bist du?« fragte sie. »Ich kenne deine Stimme...«
    »Wenn ich noch einen Ton von dir höre...« Dowd richtete den Zeigefinger auf Judith und duzte sie jetzt wieder. »Dann bekommst du die Käfer zu spüren...«
    »Hab' keine Angst vor ihm«, sagte Quaisoir.
    »Sie weiß es besser«, knurrte Dowd. »Sie hat gesehen, wozu ich fähig bin.«
    Judith wollte unbedingt reden, damit die Frau am Boden ihre Stimme hören konnte, und sie gab Oscars Diener recht, um ihn nicht noch mehr herauszufordern.
    »Es stimmt«, sagte sie. »Er kann uns beiden großes Leid zufügen. Doch ist er nicht der Mann der Schmerzen, Schwester.«
    Vielleicht lag es daran, daß Quaisoir nur Worte vernahm, die sie selbst mehrmals formuliert hatte - Mann der Schmerzen -, oder war es allein die Bezeichnung ›Schwester‹, die ihr Ruhe schenkte? Die Verwirrung verschwand aus ihrem Gesicht, und 685

    sie entspannte sich, als sie aufstand.
    »Wie lautet dein Name?« fragte sie. »Nenn mir deinen Namen.«
    »Sie ist nichts«, zischte Dowd. Wut glomm in seinen Augen.
    »Und sie ist so gut wie tot.« Er trat auf Judith zu. »Du verstehst so wenig - was ich dir viel zu oft verziehen habe. Doch damit ist jetzt Schluß. Du hast etwas Großartiges ruiniert, und dafür sollst du büßen.« Er hob die linke Hand zum Mund, den Zeigefinger ausgestreckt. »Es sind nicht mehr viele Käfer übrig; einer muß genügen. Ein langsamer Tod. Ja, selbst ein Schatten wie du kann sterben.«
    »Ach, ich bin also ein Schatten?« erwiderte Judith. »Ich dachte, wir sind einander ähnlich. Erinnerst du dich daran?«
    »Unsere Ähnlichkeit betraf ein früheres Leben, Kindchen«, brummte Dowd. »Hier ist alles anders. Hier könntest du mir schaden. Und deshalb müssen wir nun voneinander Abschied nehmen.«
    Jude wich langsam zurück und fragte sich dabei, wie groß die Reichweite der entsetzlichen Käfer sein mochte. Dowd beobachtete sie, und so etwas wie Mitleid zeigte sich in seinem Gesicht.
    »Es hat keinen Zweck, Kindchen«, sagte er. »Ich kenne diese Straßen viel besser als du.«
    Judith ignorierte seine Herablassung und trat noch einen Schritt nach hinten - ihr Blick klebte dabei am Mund fest, in dem die Käfer warteten. Quaisoir hatte sich unterdessen erhoben und stand kaum einen Meter von dem Mann

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