Imagica
unbelastet bleibe. Sie bringt Elend. Soviel Elend...«
Dowd überlegte kurz und fuhr dann fort: »Weißt du, es ähnelt dem ersten Mal. Liebende voller Sehnsucht. Bebende Welten.
Nun, beim letztenmal war ich nur ein Speerträger. Jetzt bin ich fest entschlossen, der Prinz zu sein.«
»Was hast du eben mit Schicksal und Geburt gemeint?«
erkundigte sich Jude. »Blieb mir deiner Ansicht nach gar keine andere Wahl, als mich in Oscar zu verlieben?« Und nach kurzem Zögern: »Ich erinnere mich nicht einmal daran, geboren zu sein.«
»Dann wird's höchste Zeit dafür.« Dowd warf die Blüte fort und kam erneut näher. »Diese Rites de passage sind nie einfach, Kindchen - sei auf einige Überraschungen gefaßt.
Nun, wenigstens hast du einen guten Ort gewählt. Wir können die Beine über den Rand baumeln lassen, während wir darüber 691
sprechen, wie du das Licht der Welt erblickt hast.«
»O nein«, widersprach Judith. »Dem Loch bleibe ich fern.«
»Glaubst du, ich will dich töten?« Dowd schüttelte den Kopf. »Du irrst dich. Ich möchte nur, daß du die Last einiger Erinnerungen abstreifst. Das ist doch nicht zuviel verlangt, oder? Sei fair: Ich habe dir einen Blick in mein Herz gewährt, und jetzt bist du dran.« Er griff nach Judes Handgelenk. »Ich bestehe darauf«, sagte er und zog sie zum Schacht.
So nahe hatte sie sich bisher nicht an die Öffnung herangewagt, und Panik stieg in ihr auf. Zwar verfluchte sie Dowds Kraft, der sie keinen Widerstand leisten konnte, aber sie war auch dankbar dafür, daß er sie festhielt.
»Möchtest du dich setzen?« fragte er. Und als Judith ablehnte: »Na schön. Wenn du stehst ist das Risiko größer, ins Loch zu fallen, aber die Entscheidung liegt bei dir. Du bist recht eigenwillig geworden, Kindchen. Das fiel mir schon vor einer ganzen Weile auf. Zu Anfang warst du gefügiger - mit der Bereitschaft zum Gehorsam hat man dich ins Leben geholt.«
»Das klingt fast so, als hätte mich jemand... erschaffen.«
»In der Tat«, bestätigte Dowd.
Jude schnaufte abfällig. »Unsinn!«
»Woher willst du das wissen? Vor zwei Minuten hast du noch darauf hingewiesen, daß du dich nicht an die Vergangenheit entsinnst. Aber jetzt streitest du die Möglichkeit ab, erschaffen worden zu sein, und zwar zu einem ganz bestimmten Zweck.« Dowd blickte in den Schacht. »Die Erinnerungen stecken irgendwo in deinem Kopf, Kindchen. Du mußt nur aufmerksam genug nach ihnen suchen. Wenn Quaisoir eine Göttin fand... Vielleicht gelang das auch dir.
Vielleicht hast du es nur vergessen. Und wenn das der Fall sein sollte... Möglicherweise spielst du eine wichtigere Rolle, als ich bisher dachte.«
»Wo sollte ich Göttinnen begegnet sein?« erwiderte Jude.
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»Ich habe in der Fünften Domäne gelebt, in London, Notting Hill Gate. Dort gibt es keine Göttinnen.«
Während diese Worte über ihre Lippen kamen, dachte sie an Celestine unter dem Turm der Tabula Rasa. War sie eine Schwester jener Gottheiten, die sich in Yzordderrex verbargen?
Eine verändernde Kraft, begraben von einem Geschlecht, das den Status quo verehrte? Als sich Judith an die Gefangene und ihre Zelle erinnerte, glaubte sie plötzlich zu schweben; es fühlte sich an, als hätte sie einen Whisky auf leeren Magen getrunken. Sie war vom Wunderbaren berührt worden, und vielleicht nicht zum erstenmal. Vielleicht ist das schon einmal geschehen, vor vielen Jahren?
»Mein Gedächtnis versagt«, sagte Judith, doch ein Teil von ihr ahnte, daß diese Behauptung nicht der vollen Wahrheit entsprach.
»Es ist ganz einfach«, sagte Dowd. »Stell dir vor, was du bei der Geburt empfunden hast.«
»Ich erinnere mich nicht einmal an meine Kindheit.«
»Weil du gar keine Kindheit hattest. Ebensowenig eine Jugend. Du bist so geboren, wie du jetzt bist, als erwachsene Frau. Quaisoir war die erste Judith - und du bist nur ihr Ebenbild, eine perfekte Kopie.«
»Ich... ich glaube dir nicht.«
»Oh, es wundert mich keineswegs, daß du dich zunächst gegen die Tatsachen sträubst. Eine vollkommen verständliche Reaktion. Aber dein Körper weiß, was wahr ist und was nicht.
Du zitterst nicht nur äußerlich, sondern auch im Innern...«
»Ich bin müde«, sagte Jude. Eine armselige Erklärung, flüsterte es in ihr.
»Du bist mehr als nur müde«, hielt ihr Dowd entgegen.
»Was fühlst du jetzt? Heraus damit!«
Judith entsann sich an die letzten Offenbarungen hinsichtlich ihrer Vergangenheit: Sie war in der Küche zu Boden gesunken, als
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