Imagica
die Geburt?« Judith schluchzte. »O Himmel, ist das die Geburt?«
»Besinn dich wieder auf die Erinnerungen«, sagte Dowd.
»Du hast damit begonnen - bring es zu Ende!« Er schüttelte sie.
»Hast du gehört? Bring es zu Ende!«
Sie starrte in sein fratzenhaftes Gesicht, sah auch den Schacht, der sich dicht hinter ihr öffnete und nur darauf zu warten schien, sie zu verschlingen. Doch zwischen diesen beiden Bildern lauerte ein drittes, das noch viel gräßlicher war: ein Zimmer, nur erhellt vom Feuer im Kamin, ihr unfertiger Leib in einem Kreis aus perversem Zauber - ein Körper, der das Destillat einer anderen Frau benötigte, damit er Haut auf die Knochen bekam, Glanz in die Augen und auf die Lippen, volle Brüste, einen Bauch, ein Geschlecht. Dies war keine Geburt, sondern Duplikation. Die zweite Frau stellte kaum mehr dar als ein Faksimile, als ein dem schlafenden Original gestohlenes Abbild.
»Das ist schrecklich«, ächzte Jude.
»Ich habe dich gewarnt, Kindchen«, sagte Dowd. »Es ist nicht leicht, die ersten Momente noch einmal zu erleben.«
»Ich bin nicht - real?«
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»Lassen wir das Metaphysische«, meinte Dowd. »Du bist das, was du bist. Früher oder später mußtest du die Wahrheit erfahren.«
»Ich ertrage es nicht. Ich ertrage es einfach nicht.«
»Du hast es bisher ertragen. Gewöhn dich langsam daran, Schritt für Schritt.«
»Nein, ich...«
»Es gibt noch mehr, noch viel mehr. Doch das Schlimmste hast du hinter dir. Von jetzt an wird's einfacher.«
Diese Worte erwiesen sich als Lüge. Die Erinnerungen kehrten zurück, ohne daß Judith sich auf sie konzentrieren mußte: Sie hob die Arme über den Kopf, und die Farben an ihren ausgestreckten Fingern erstarrten. Eigentlich ganz hübsch
- bis sie einen Arm sinken ließ und ihre gerade entstandenen Nerven eine nahe Präsenz spürten, die ihr in der Gebärmutter des magischen Kreises Gesellschaft leistete. Sie wandte den Kopf und schrie.
»Was ist?« fragte Dowd. »Hast du die Göttin gesehen?«
Es war keine Göttin, sondern ein zweiter unvollständiger Körper, ein deformes Wesen, das sie aus lidlosen Augen anstarrte und eine farblose Zunge herausstreckte, so rauh, daß sie Judiths neue Haut abschmirgeln konnte. Aus einem Reflex heraus wich sie zurück, und ihre Furcht erweckte das Ding zum Leben - stummes Gelächter ließ den blassen Leib erzittern. Die Staubkörner aus Farbe fielen auch auf ihn herab, aber er badete nicht etwa in ihnen, sondern fing sie mit den Händen auf. Vor allem schien das Wesen seine eigenartige Nacktheit in vollen Zügen genießen zu wollen.
Dowds Stimme erklang wie aus weiter Ferne. »Ist es die Göttin?« fragte er. »Was siehst du? Antworte endlich, Weib!
Du sollst antworten... «
Er unterbrach sich abrupt. Kurze Stille folgte, und dann ertönte ein so schriller Schrei, daß sich die Bilder vor Judiths innerem Auge verflüchtigten. Der Kreis aus Sand und das Ding 697
darin verschwanden, und gleichzeitig spürte sie, wie sich Dowds Finger von ihrem Handgelenk lösten, wie sie das Gleichgewicht verlor und fiel. Der Zufall wollte es, daß sie nicht direkt nach hinten kippte, sondern zur Seite: Dicht am Rand des Schachtes prallte sie aufs Pflaster, und sofort rutschte sie der trichterförmigen Öffnung entgegen. Judiths Hände tasteten über Steine, die im Lauf der Jahre von vielen Körpern glattgescheuert worden waren, und sie glitt weiter der Öffnung entgegen - die Tiefe schien jetzt eine längst fällige Schuld eintreiben zu wollen. Ihre Beine traten in die leere Luft, als die Hüften den Rand des Loches erreichten. Judes Finger suchten irgendwo nach Halt - vielleicht ein Name, dessen Buchstaben etwas tiefer ins Pflaster gekratzt waren als andere; oder der Dorn einer Rose zwischen zwei Steinen. Während sie sich noch eine Möglichkeit erhoffte, dem Zerren der Schwerkraft zu widerstehen, schrie Dowd noch einmal. Judith hob den Kopf und sah ein Wunder.
Quaisoir war da und lebte. Jene Veränderung, die vorher begonnen hatte, als sie sich neben Dowd erhob, war nun komplett geworden. Die Haut glänzte in der gleichen Farbe wie der blaue Stein, und das Gesicht mit den beiden leeren Augenhöhlen strahlte. Als noch viel seltsamer stellte sich etwas anderes heraus: Zehn oder mehr tentakelartige Pseudopodien wuchsen ihr aus dem Rücken, berührten abwechselnd den Boden und verliehen der Frau damit die Fähigkeit, fast über den Platz zu fliegen. Quaisoir kam mit all der Macht auf sie zu, die sie in der
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