Imagica
Bastion gefunden hatte, und es blieb Dowd nichts anderes übrig, als vor ihr zurückzuweichen, bis zum Rand des Schachtes. Er schwieg jetzt, sank auf die Knie und versuchte, an den Tentakeln vorbeizukriechen.
Judith verlor den letzten Halt, rutschte erneut und rief um Hilfe.
»Schwester?« fragte Quaisoir.
»Hier!« schrie Jude. »Ich bin hier! Schnell!«
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Die Frau näherte sich dem Schacht, getragen von den rankenartigen Gebilden, die ihr aus dem Rücken wuchsen.
Dowd wählte diesen Zeitpunkt, um einen Fluchtversuch zu unternehmen, doch er schätzte seine Chancen falsch ein: Eine Pseudopodie traf auf seine Schulter, wickelt sich sofort um den Hals und zog den Mann über den Rand des Lochs. Im gleichen Augenblick verlor Judith endgültig jede Hoffnung, sich am Rand der Öffnung festhalten zu können. Sie rutschte dem Schlund schneller entgegen und stieß dabei einen letzten verzweifelten Schrei aus. Quaisoir reagierte sofort. Als Jude den Tod bereits sicher wähnte, als um sie herum die Mauern des Schachtes nach oben wuchsen, sausten mehrere blaue Tentakel heran und packten sie an Handgelenken und Armen.
Sie schloß ihrerseits die Finger darum und fühlte, wie sie nach oben gezogen wurde. Quaisoir holte sie aus dem Trichter und setzte sie vorsichtig auf dem Boden ab. Judith rollte sich auf den Rücken und schnaufte wie ein Sprinter nach dem Rennen, während sich die Rankenfühler von ihr lösten.
Dowds Flehen erklang aus dem Schacht und veranlaßte sie schließlich dazu, sich wieder aufzurichten. Über viele Generationen hinweg hatte er die Rolle des Dieners gespielt -
kein Wunder, daß er die Kunst des Winselns so gut beherrschte. Er versprach Quaisoir ewigen Gehorsam und völlige Selbstverleugnung, falls sie ihm das Leben schenkte.
Funkelten nicht in jeder himmlischen Krone die Edelsteine namens Gnade und Barmherzigkeit? Und war sie kein Engel?
»Nein«, erwiderte Quaisoir. »Ebensowenig wie ich die Braut von Jesus Christus bin.«
Dowd gab nicht auf und begann mit einer neuen Litanei; er pries die Blinde, stellte ihr seine ewigen Dienste in Aussicht und beschrieb sie in allen Einzelheiten. Sie könnte keinen besseren Sklaven finden, keinen anspruchsloseren Akolythen.
Was verlangte Quaisoir von ihm? Seine Männlichkeit? Kein Problem. Dowd erklärte seine Bereitschaft, sich auf der Stelle 699
kastrieren zu wollen.
Gleich darauf bekam Judith einen eindeutigen Beweis für Quaisoirs neue Kräfte, als ihre Tentakel den Gefangenen wirklich aus dem Schacht hoben und an den Rand zogen.
Dowds Erleichterung fand in einer Flut aus Worten Ausdruck.
»Danke, tausend Dank, oh, ich bin ja so dankbar...«
Jude sah, daß ihm gleich doppelte Gefahr drohte: Unter ihm gähnte der dunkle Trichter, und die Ranken hätten ihn vermutlich erdrosselt, wenn es ihm nicht gelungen wäre, seine Finger zwischen Hals und Schlinge zu schieben. Theatralische Tränen rannen ihm über die Wangen.
»Meine Damen...«, brachte er hervor. »Wie soll ich euch meine Dankbarkeit zeigen?«
Quaisoirs Antwort bestand aus einer weiteren Frage.
»Warum habe ich mich von dir täuschen lassen? Du bist nur ein Mann. Was weißt du von Göttlichkeit?«
Dowd rang mit sich und seiner Furcht. Er wußte nicht, ob er leugnen oder bestätigen sollte - beide mochte sich als fatal erweisen.
»Sag die Wahrheit«, riet ihm Judith.
»Einst diente ich dem Unerblickten«, begann Dowd. »Er fand mich in der Wüste und schickte mich zur Fünften Domäne.«
»Warum?«
»Dort wollte er einige Dinge erledigt wissen.«
»Was für Dinge?«
Dowd wand sich im festen Tentakelgriff hin und her. Seine Tränen waren inzwischen getrocknet, und der dramatische Klang verschwand aus seiner Stimme.
»Er wollte eine Frau«, sagte er. »Die ihm einen Sohn in der Fünften schenken sollte.«
»Und du hast eine gefunden?«
»Ja. Sie hieß Celestine.«
»Was geschah mit ihr?«
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»Keine Ahnung. Ich hielt mich an meine Anweisungen, und...«
»Was geschah mit ihr?« wiederholte Quaisoir etwas schärfer.
»Sie starb«, sagte Dowd. Er zog die beiden Worte in die Länge, um zu sehen, ob sie auf Argwohn stießen. Als das nicht der Fall war, fuhr er selbstsicherer fort: »Ja, das geschah. Sie starb. Bei der Geburt des Kindes, soviel ich weiß.
Hapexamendios schwängerte sie, und ihr armer Körper konnte nicht mit soviel Verantwortung fertig werden.«
Inzwischen war Judith zu sehr mit Dowds Stil vertraut, um sich von ihm täuschen zu lassen. Sie kannte jene besondere
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