Imagica
hier.
Um Jesus meine Sünden zu gestehen. Er schickte mir jemanden...«
»Das war ich.«
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»Du... bist in meinen Gedanken gewesen?«
»Ja.«
»Also habe ich dich gefunden anstatt Christus. Es scheint ein noch größeres Wunder zu sein.« Sie streckte die Hand aus, und Judith griff danach. »Teilst du diese Ansicht, Schwester?«
»Ich weiß nicht. Heute morgen war ich... noch ich selbst.
Und was bin ich jetzt? Eine Kopie? Eine Art Fälschung?«
Bei dem letzten Wort erinnerte sich Jude an Kleins Bastard Boy: Gentle, der Fälscher - er verdiente Geld mit dem Genie anderer Personen. War er deshalb von ihr besessen gewesen?
Hatte er in ihr einen subtilen Hinweis auf seine wahre Natur gesehen und vor allem das Abbild namens Judith geliebt?
»Ich war glücklich«, fuhr sie fort und dachte an die schöne Zeit mit Gentle. »Obwohl ich gelegentlich nichts von meinem Glück wußte. Ich war ich selbst.«
»Das bist du auch jetzt.«
»Nein«, widersprach Judith und spürte, wie Verzweiflung in ihr keimte. »Ich bin ein Teil von jemand anderem.«
»Wir alle sind Teile«, sagte Quaisoir. »Ob wir geboren oder erschaffen wurden.« Ihre Finger schlossen sich fester um Judes Hand. »Und wir alle hoffen, zu einer Einheit zu werden.
Bringst du mich zum Palast zurück?« fragte sie. »Dort sind wir sicherer als hier.«
»Natürlich.« Judith half der Blinden auf die Beine.
»Weißt du, in welche Richtung wir uns wenden müssen?«
erkundigte sich Quaisoir.
Jude bestätigte. Trotz Rauch und Dunkelheit sah sie die massiven Mauern des Palastes, die weit oben am Hang emporragten.
»Wir haben eine ziemliche Klettertour vor uns«, sagte sie.
»Vielleicht erreichen wir das Ziel erst morgen früh.«
»Die Nächte sind lang in Yzordderrex«, erwiderte Quaisoir.
»Aber sie dauern nicht ewig«, meinte Judith.
»Für mich schon.«
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»Oh, entschuldige bitte. Das war gedankenlos von mir. Ich wollte nicht...«
»Schon gut«, sagte Quaisoir. »Ich mag die Finsternis. So kann ich mich besser an die Sonne erinnern. An die Sonne und die Engel am Tisch. Nimmst du meinen Arm, Schwester? Ich möchte dich nicht noch einmal verlieren.«
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KAPITEL 38
An einem friedlicheren Ort hätte sich Gentle sicher über so viele verschlossene Türen geärgert, doch hier sah die Sache etwas anders aus. Als Lazarewitsch ihn näher zum Zapfenturm führte, verdichtete sich die Atmosphäre des Unheils, und plötzlich war Zacharias froh, daß die Türen Dinge vor ihm verbargen. Der Soldat blieb die meiste Zeit über still und beendete sein Schweigen nur ab und zu, um Gentle vorzuschlagen, den Rest des Weges allein zurückzulegen.
»Es ist jetzt nicht mehr weit«, sagte er. »Von nun an können Sie auf meine Hilfe verzichten.«
»Wir haben etwas anderes vereinbart«, erwiderte Zacharias bei solchen Gelegenheiten, woraufhin Lazarewitsch leise fluchte und einige Dutzend Meter weiter stapfte, ohne einen Ton von sich zu geben. Bis ihn der ferne Schrei in einem langen Korridor oder Blutflecken auf dem ansonsten sauberen Boden veranlaßten, erneut stehenzubleiben und seinen Vorschlag zu wiederholen.
Niemand versuchte, sie aufzuhalten. Wenn in den gewaltigen Sälen jemals Aktivität geherrscht hatte - und Gentle zweifelte daran; in dieser riesigen Anlage konnten sich ganze Armeen verirren -, so waren sie nun verlassen. Sie begegneten nur einigen Dienern und Bürokraten, die mit ihren hastig zusammengepackten Habseligkeiten flohen. Ihnen ging es nur ums Überleben, und deshalb schenkten sie dem blutenden Soldaten sowie seinem armselig gekleideten Begleiter keine Beachtung.
Schließlich gelangten sie zu einer nicht verriegelten Tür, und diesmal weigerte sich Lazarewitsch hartnäckig, über die Schwelle zu treten.
»Das ist der Zapfenturm«, hauchte er voller Ehrfurcht.
»Wie kann ich sicher sein, daß du die Wahrheit sagst?«
»Fühlen Sie es nicht?«
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Gentle spürte tatsächlich etwas: ein sanftes Prickeln in Fingerspitzen, Hoden und Stirnhöhlen.
»Es ist der Turm, ich schwöre es«, flüsterte Lazarewitsch.
Zacharias glaubte ihm. »Na schön«, brummte er. »Du hast deine Pflicht erfüllt. Geh jetzt.«
Der Soldat lächelte erfreut. »Im Ernst? Ich kann wirklich gehen?«
»Ja.«
»Oh, danke. Wer auch immer Sie sind. Danke.«
Bevor er forthastete, griff Gentle nach seinem Arm und zog ihn näher zu sich heran. »Sag deinen Kindern, daß sie keine Soldaten werden sollen«, zischte er. »Dichter oder Schuhputzer, ja. Aber keine
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