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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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werden...«
    »Die Zeremonien sind mir völlig gleich.« Er kam weiteren Einwänden Dados zuvor, indem er die Hand des kleinen Mannes abschüttelte, einfach losging und hoffte, die entsprechende Richtung einzuschlagen.
    Floccus folgte ihm und mußte laufen, um mit dem größeren Gentle Schritt zu halten. Immer wieder prophezeite er Unheil, wenn Zacharias auch weiterhin darauf beharrte, sich der Rasur zu nähern. In dieser Nacht sei sie besonders unruhig; einige Beobachter hatten von Rissen darin berichtet. Dado bezeichnete es als gefährlich und sogar selbstmörderisch, keine sichere Entfernung zum Nichts zu wahren. Er warnte vor einer Entweihung. Gentle mochte ein Maestro sein, aber er war nicht befugt, gegen die Etikette zu verstoßen. Als Gast hielt er sich an diesem Ort auf; man hatte ihn eingeladen, unter der Voraussetzung, daß er die allgemeinen Regeln achtete.
    Angeblich existierten sie aus gutem Grund. Nicht zum Scherz verboten sie Fremden, nahe der Rasur zu wandeln. Fremde verstanden nicht, und wer nicht verstand, konnte eine Katastrophe für alle heraufbeschwören.
    »Welchen Sinn haben Regeln, wenn niemand weiß, was dort draußen geschieht?« fragte Gentle.
    »Wir wissen es! Wir verstehen diesen Ort. Hier beginnt Gott.«
    »Dann brauchen Sie wenigstens nicht lange zu überlegen, wenn mich das Nichts umbringt und Sie meinen Nachruf verfassen müssen. Schreiben Sie einfach: Gentle endete dort, wo Gott beginnt.«
    »Das ist nicht komisch.«
    »Mag sein.«
    »Es geht um Leben und Tod.«
    »In der Tat.«
    775

    »Warum wollen Sie sich einer solchen Gefahr aussetzen?«
    »Weil mein Platz dort ist, wo sich Pie'oh'pah aufhält. Das sollte selbst einem schwachsichtigen und kurzsinnigen Mann wie Ihnen klar sein!«
    »Sie meinen kurzsichtig und schwachsinnig.«
    »Ja.«
    Weiter vorn sah Gentle die Tür, die Athanasius für ihn geöffnet hatte. Sie war nicht geschlossen, und niemand hielt dort Wache.
    »Ich möchte nur darauf hinweisen...«, begann Floccus erneut.
    »Hören Sie endlich auf.«
    »Es war eine zu kurze Freundschaft«, sagte der kleine Mann.
    Gentle blieb stehen, und sein Ärger erfüllte ihn plötzlich mit Verlegenheit.
    »Es ist noch zu früh, mir nachzutrauern«, meinte er sanft.
    Dado gab keine Antwort, wich vor der offenen Tür zurück und überließ es Gentle, allein nach draußen zu treten. Eine stille Nacht empfing ihn - der Wind wehte als leichte Brise und flüsterte nur noch. Zacharias blickte nach rechts und links und sah Betende in beiden Richtungen: Sie knieten in der Düsternis, meditierten mit gesenktem Haupt. Er wollte sie nicht stören und ging so leise wie möglich, doch die Steinsplitter auf dem unebenen Boden bewegten sich vor ihm, schienen ihn mit Knistern und Klacken ankündigen zu wollen. Es gab noch eine weitere Reaktion auf seine Präsenz: Sein Atem, der so oft zerstört und getötet hatte, glitt in Form dunkler Wolken von den Lippen, als Schatten, in denen scharlachrote Funken glühten. Sie wehten nicht auseinander, sondern sanken hinab, als hätte ihre Tödlichkeit Substanz und Gewicht. An Taille und Beinen hafteten sie fest, wogten dort Leichentüchern gleich.
    Gentle versuchte nicht, sie abzustreifen, obwohl der von ihnen geformte Umhang immer dichter wurde und ihm den Blick zu Boden verwehrte. Er brauchte nicht lange nach einer Erklärung 776

    für dieses Phänomen zu suchen: Diesmal fehlte die Gegenwart von Pater Athanasius, und deshalb verweigerte ihm die Luft das Privileg, als Unschuldiger außerhalb des Lagers zu wandern. Die Wüste kleidete ihn in Schwarz, kündigte ihn mit steinernen Trommeln an und offenbarte den Kern seines Wesens, identifizierte ihn als Maestro, dessen Lungen zu einer mörderischen Waffe werden konnten. Diese Tatsache ließ sich weder vor dem Nichts noch vor den Betenden verbergen.
    Das lauter werdende Klacken der Steine störte hier und dort die Meditation. Männer und Frauen hoben den Kopf und bemerkten die unheilvolle Gestalt in ihrer Mitte. Ein Mangler in unmittelbarer Nähe von Gentle sprang erschrocken auf und floh, dabei erflehte er göttlichen Schutz. Zacharias wandte sich unbeirrt dem Nirgendwo Gottes zu und hielt in dem Bereich davor nach Pie Ausschau. Das sonderbare Panorama der Rasur beunruhigte ihn jetzt nicht mehr so wie beim erstenmal, als Athanasius ihn durch die Tür geführt hatte. Die Schwärze des eigenen Atems kennzeichnete ihn als jemanden, der über eigene Macht gebot, und mit diesem Status trat er vor die Leere, nicht als

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