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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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irgendwelche Leute aufbrachen und zur sogenannten Rasur gingen. Sie beteten, setzten tapfer einen Fuß vor den anderen - und dann lösten sie sich auf. Sie verschwanden einfach, als hätten sie nie gelebt.«
    »Aber hier sind Kranke und Verletzte geheilt worden. So wie Sie.«
    »Oscar hat mich übel zugerichtet, das stimmt, und ich bin nicht gestorben. Aber es ist fraglich, ob ich mein Überleben dem Umstand verdanke, daß ich mich hier aufhalte. Denken Sie mal darüber nach... Wenn wirklich Gott jenseits der Leere wartet, und wenn Er so verdammt versessen darauf ist, die Kranken zu heilen - warum sieht Er den Ereignissen in Yzordderrex tatenlos zu? Warum nimmt Er ein solches Entsetzen hin, ohne den Schrecken mit Seiner Allmacht zu beenden? Nein, Gentle. Ich spreche vom Nirgendwo Gottes, doch dieser Name verrät nur die halbe Wahrheit. Wer Gott in 772

    der Leere sucht, wird eine Enttäuschung erleben. Vielleicht war Er einmal dort, aber...«
    Estabrook spülte das Ende des Satzes mit Kloupo hinunter.
    »Danke«, sagte Zacharias.
    »Wofür danken Sie mir?«
    »Sie haben mir dabei geholfen, eine Entscheidung zu treffen.«
    »Oh, gern geschehen«, brummte Charlie. »Hier fällt es einem schwer, einen klaren Gedanken zu fassen, nicht wahr?
    Weil der Wind dauernd weht. Finden Sie allein den Weg zu Ihrer wunderschönen Freundin, oder soll ich Sie begleiten?«
    »Ich finde ihn allein«, entgegnete Gentle.
    2
    Schon kurze Zeit später bedauerte es Gentle, Estabrooks Angebot abgelehnt zu haben. In dem großen Zeltlager sahen die von Laternen erhellten Gassen praktisch alle gleich aus, und nach wenigen Minuten mußte er sich der bitteren Erkenntnis stellen, vollkommen die Orientierung verloren zu haben. Er hatte keine Ahnung, wie er zu Pie gelangen sollte, und kannte nicht einmal den Weg zurück zu Charlie. Eine Gasse brachte ihn zu einer Art Kapelle, in der mehrere Mangler vor einem offenen Fenster hockten und beteten. Inzwischen war es draußen völlig dunkel geworden, doch die ›Rasur‹ bot einen ähnlichen Anblick wie während der Abenddämmerung: konturloses Nichts, eine Leere, die wie ein Loch in der Nacht wirkte und beunruhigender war als die Grausamkeiten in Beatrix, als die versiegelten Kammern im Palast. Gentle wandte sich vom Fenster und den Betenden ab und setzte die Suche nach Pie'oh'pah fort.
    Der Zufall brachte ihn schließlich zu dem Zelt, in dem der Mystif ruhte, doch die entsprechende Liege erwies sich als leer.
    Zacharias runzelte verwirrt die Stirn und zweifelte nun daran, im richtigen Pavillon zu sein. Er spielte mit dem Gedanken, 773

    einen anderen Kranken um Auskunft zu bitten, bis er die Reste von Dados Mahlzeit sah: einige Krusten, mehrere abgenagte Knochen. Dies war also Pies Bett. Doch der Mystif blieb verschwunden. Gentle drehte den Kopf, sah zu den übrigen Patienten hinüber: Sie schliefen oder lagen im Koma. Er hielt trotzdem an der Entschlossenheit fest, dieses Rätsel zu lösen, trat an die nächste Liege heran - und hörte plötzlich Floccus'
    Stimme.
    »Ah, da sind Sie ja! Ich habe überall nach Ihnen gesucht.«
    »Pie liegt nicht in seinem Bett!«
    »Ich weiß, ich weiß. Ich verließ das Zelt, um meine Blase zu entleeren - höchstens zwei Minuten bin ich draußen gewesen -, und als ich zurückkehrte, war er nicht mehr da. Ich dachte, Sie hätten ihn fortgebracht.«
    »Warum denn?«
    »Bitte seien Sie nicht böse auf mich. Hier droht Pie gewiß keine Gefahr, glauben Sie mir.«
    Nach dem Gespräch mit Estabrook neigte Gentle zu Skepsis, aber er vergeudete keine Zeit damit, Floccus zu widersprechen.
    Es galt, Pie zu finden, so schnell wie möglich.
    »Wo haben Sie nach ihm gesucht?« fragte er.
    »Überall«, antwortete Dado.
    »Könnten Sie sich etwas genauer ausdrücken?«
    »Ich habe mich verirrt«, sagte Floccus. Er gestikulierte nervös. »Die Zelte sehen alle gleich aus.«
    »Sind Sie draußen gewesen, außerhalb des Lagers?«
    »Nein. Warum?« Dados Miene wurde nachdenklich, und wenige Sekunden später begriff er, was Gentle meinte.
    »Glauben Sie etwa, der Mystif will zur Rasur?«
    »Vielleicht«, erwiderte Zacharias. »Wir sollten nicht darauf verzichten, dort nach ihm Ausschau zu halten. Wohin führte mich Athanasius? Er öffnete eine Tür...«
    »Warten Sie!« stieß Floccus hervor und hielt Gentle an der Jacke fest. »Sie können nicht einfach so durch eine Tür 774

    treten...«
    »Warum denn nicht? Ich bin ein Maestro, oder?«
    »Gewisse Zeremonien müssen durchgeführt

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