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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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das Niemandsland zwischen fester, greifbarer Realität und Auflösung. Gentle wandte nicht den Blick ab, er beobachtete alles mit einer Unerschütterlichkeit, der es zwar an Mut mangelte, die aber auf Trotz basierte. Plötzlich erschien die Bezeichnung ›Rasur‹
    überaus sinnvoll: Etwas tilgte den Mystif aus der Wirklichkeit, schabte ihn fort, so wie eine Klinge Geschriebenes verschwinden ließ - auf einer Skizze etwa, die ihren Zweck erfüllt hatte. Doch im Gegensatz zu einer Skizze, die Spuren auf der Seite hinterläßt, blieb nichts von Pie übrig. Seine Existenz wurde komplett und vollständig ausgelöscht - und beschränkte sich nur noch auf einen Platz in Gentles unzuverlässigem Gedächtnis.
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    KAPITEL 41
    Als Gentle zum Lager zurückkehrte, begegnete er dort den Blicken von fünfzig oder mehr Personen, die an der Tür standen und offenbar alles beobachtet hatten. Niemand gab einen Ton von sich, als er an ihnen vorbeischritt, doch dann flüsterte es hinter ihm, wie das Summen und Zirpen von Insekten. Haben die Leute nichts Besseres zu tun, als über den Grund für meinen Kummer zu schwatzen? dachte Zacharias. Je eher er diesen Ort verließ, desto besser. Er beschloß, sich von Estabrook und Floccus zu verabschieden und unverzüglich aufzubrechen.
    Noch einmal trat er an Pies Bett heran, in der Hoffnung, daß ihm der Mystif irgend etwas hinterlassen hatte, doch nur eine Mulde im Kissen erinnerte an ihn. Gentle sehnte sich danach, selbst eine Zeitlang auf dieser Matratze auszuruhen, aber er durfte nicht damit rechnen, in diesem Zelt lange allein zu sein.
    Seinem Leid mußte er sich unterwegs hingeben, wenn er sicher sein konnte, daß ihm niemand zusah.
    Als er seine Sachen zusammenpackte, erschien Floccus und zuckte zurück wie ein Boxer, der den Hieb des Gegners erwartet.
    »Ich möchte Sie nicht stören...«, begann er.
    »Schon gut«, erwiderte Gentle. »Es gibt mir Gelegenheit, Ihnen Lebewohl zu sagen. Und... Dank für alles.«
    »Bevor Sie gehen...« Floccus blinzelte mit wachsender Nervosität. »Ich habe eine Mitteilung für Sie...« Er stotterte nun und wurde immer blasser.
    »Ich entschuldige mich hiermit für mein Verhalten«, unterbrach ihn Gentle und versuchte, den kleinen Mann zu beruhigen. »Sie haben sich alle Mühe gegeben und dafür nur meine schlechte Laune zu spüren bekommen.«
    »Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen.«
    »Pie ist fort, und ich kann ihm nicht folgen - so sieht die 783

    Sache aus.«
    »Es freut mich, daß sie noch hier sind«, entfuhr es Dado.
    »Das meine ich ernst, Meastro.«
    Der Titel Maestro gab Gentle einen Hinweis. »Haben Sie Angst vor mir, Floccus?« fragte er. »Fürchten Sie sich?«
    »Ob ich mich fürchte? Nun, äh, ja. In gewisser Weise. Ja.
    Was dort draußen geschah... Sie befanden sich in unmittelbarer Nähe der Rasur, ohne von ihr verschlungen zu werden, und außerdem haben Sie sich verändert...« Gentle merkte, daß der dunkle Umhang noch immer an ihm haftete, sich nur langsam auflöste. »Dadurch sehe ich alles aus einem, äh, neuen Blickwinkel. Wie ein Narr habe ich mich verhalten, das ist mir jetzt klar. Weil ich nicht verstanden habe, wen ich begleitete: einen Mann, der über große Macht verfügt. Wenn ich Sie aus irgendeinem Grund verärgert haben sollte...«
    »Nein.«
    »Manchmal kann ich recht lästig sein.«
    »Sie sind mir eine angenehme Gesellschaft gewesen, Floccus.«
    »Danke, Maestro. Danke. Vielen Dank.«
    »Bitte hören Sie auf, mir zu danken.«
    »Ja, Maestro. Danke.«
    »Eben haben Sie eine Mitteilung für mich erwähnt.«
    »Tatsächlich? O ja.«
    »Von wem stammt sie?«
    »Von Athanasius. Er möchte Sie sprechen.«
    Der dritte Abschied, dachte Gentle. »Bitte bringen Sie mich zu ihm«, sagte er. Floccus' Gesicht drückte Erleichterung darüber aus, daß er diesen Wortwechsel überlebt hatte, und er führte den Maestro fort von dem leeren Bett.
    Sie wanderten durch ein riesiges Gebilde, das aus zahlreichen Zelten bestand. Nach wenigen Minuten lebte der Wind auf, und aus dem Flüstern und Raunen wurde ein wie zornig klingendes Heulen, gerade da, als Gentle eine Kammer 784

    betrat, in der Athanasius auf ihn wartete. Die kleinen Flammen in den Laternen auf dem Boden flackerten, und in ihrem unsteten Schein sah Zacharias, welch traurigen Ort Athanasius für ihre letzte Begegnung ausgewählt hatte. Sie befanden sich hier in einer Art Leichenhalle: Überall lagen reglose Körper, manche wie Pakete verschnürt, andere kaum bedeckt

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