Imagica
ein Bittsteller, der auf Erleuchtung oder Erlösung hoffte. Er schloß inneren Frieden mit dem Geheimnis, das die Rasur darstellte, denn immerhin war er der Rekonziliant, beauftragt von der Stimme des Zapfens.
Als Gentle den Mystif sah, betrug die Entfernung zur Tür drei- oder vierhundert Meter, und hier knieten nicht mehr annähernd so viele Mangler, nur noch einige wenige, die besonders mutig oder leichtsinnig waren. Manche wichen zurück, als sich Zacharias näherte, doch andere rührten sich nicht von der Stelle, ließen den Fremden passieren, ohne zu ihm aufzusehen. Inzwischen trug Gentle ein so weites und dichtes schwarzes Gewand, daß er fürchtete, für Pie'oh'pah ein Unbekannter zu bleiben, und deshalb beschloß er, den Namen des Mystifs zu rufen. Seine Stimme hallte durch die Nacht -
und blieb ohne Antwort. Pies Kopf bildete in der Dunkelheit 777
nur einen vagen Schemen, aber Gentle wußte trotzdem, wohin er starrte - zum Nirgendwo, das den gleichen Reiz auf ihn ausübte wie ein tiefer Abgrund auf einen Selbstmörder.
Zacharias ging schneller, und seine hastigen Schritte lösten größere Steine aus ihrer Ruhe. Zwar deutete nichts an Pie auf Eile hin, aber er fürchtete die Unerreichbarkeit des Mystifs, wenn er in die unbestimmte Zone zwischen massiver Realität und Leere geriet.
»Pie!« rief er erneut. »Hörst du mich? Bitte bleib stehen!«
Die Worte erweiterten den Umhang aus Schwärze, doch Pie ignorierte sie - bis Gentle ihnen den Klang eines Befehls gab.
»Pie'oh'pah. Hier spricht dein Maestro. Bleib stehen.«
Der Mystif taumelte, als sei die Anweisung ein Hindernis, über das er gestolpert wäre, und ein schmerzerfülltes Ächzen entrang sich seiner Kehle. Doch jetzt konnte er den Weg nicht länger fortsetzen und mußte dem Mann gehorchen, der ihn einst zur Fünften gerufen hatte. Er verharrte und wartete, bis Gentle näher kam.
Als Zacharias nur noch zehn Schritte von dem Mystif trennten, sah er deutlich das aktuelle Stadium des Auflösungsprozesses. Dies war der Beweis dafür, daß die Rasur keine Heilung verhieß: Die Fäule erschien nun realer als der Körper, in dem sie wucherte; ihre Flecken schimmerten wie glühende Kohlen, über die der Wind hinwegstrich.
»Warum hast du das Bett verlassen?« fragte Gentle, der nun langsamer ging, als die Distanz zum Mystif schrumpfte. Pies Gestalt wirkte so zart und fragil, daß er fürchtete, sie mit einer abrupten Bewegung ganz zu zerfasern. »Was auch immer sich jenseits der Leere befinden mag, Pie - du brauchst es nicht.
Bleib hier, bei mir.«
Pie'oh'pah antwortete nicht sofort. Und als er schließlich sprach, war die Stimme ebenso ätherisch wie der Leib. Gentle vernahm eine geflüsterte Bitte, und sie stammte von einem Phantom, das immer mehr Kraft verlor.
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»Ich sterbe, Maestro.«
»Das glaube ich nicht. Ich habe geschworen, keine neuerliche Trennung zuzulassen, Pie. Das bedeutet, daß ich mich um dich kümmern, dir helfen, dich behandeln und heilen will. Es war ein Fehler, dich hierherzubringen, das weiß ich nun. Und es tut mir sehr leid, daß du deswegen leiden mußtest.
Gemeinsam suchen wir einen anderen Ort auf...«
»Nein, es war kein Fehler. Es gab gute Gründe für dich, den Weg zu dieser Wüste zu beschreiten.«
»Du bist mein Grund, Pie. Ich wußte gar nicht, wer ich bin -
bis du mich gefunden hast. Und wenn du mich jetzt verläßt..., dann vergesse ich mich wieder.«
»Nein, das ist unmöglich.« Der schemenhafte Kopf drehte sich. Gentle konnte die Augen nicht erkennen, fühlte jedoch Pies Blick auf sich ruhen. »Du bist der Maestro Sartori, der Rekonziliant von Imagica.« Der Mystif zögerte und fügte noch leiser hinzu: »Darüber hinaus bist du mein Herr, Gemahl, Bruder und bester Freund. Wenn du mir befiehlst, hierzubleiben..., dann bleibe ich. Aber wenn du mich wirklich liebst, Gentle, so laß mich gehen...«
Pie'oh'pah formulierte sein Anliegen mit so einfachen und gleichzeitig ausdrucksstarken Worten, daß sie eine nachhaltige Wirkung erzielten. Wenn Gentle sicher gewesen wäre, daß auf der anderen Seite der Rasur ein Paradies existierte, bereit dazu, den Mystif aufzunehmen, so hätte er nicht gezögert, sich hier und jetzt von ihm zu verabschieden. Aber er glaubte nicht an eine solche Möglichkeit und fühlte sich verpflichtet, Pie zu warnen.
»Dort drüben beginnt nicht der Garten Eden«, sagte er.
»Vielleicht weilt Gott hinter dem Nirgendwo, vielleicht auch nicht. Solange es keine Gewißheit
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