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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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Mann, sie nach London zu fahren, und stellte ihm dafür eine großzügige Summe in Aussicht. Unterwegs wurde das Wetter noch schlechter, aber der im Fond sitzende Gentle kurbelte das Fenster herunter und genoß ein Panorama, das er seit einem halben Jahr nicht mehr gesehen hatte - er ignorierte den Umstand, daß der Wind Regen hereinwehte. Unterdessen mußte Judith den Monolog des Fahrers ertragen. Er sprach so undeutlich, daß jedes dritte Wort völlig unverständlich blieb, aber es fiel ihr nicht schwer, das Wesentliche zu erfassen. In dieser Gegend seien die Leute mit der Natur verbunden, betonte er immer wieder, und deshalb würden sie mehr vom Wetter wissen als irgendwelche klug redenden Meteorologen: Und hier prophezeite man einen katastrophalen Sommer.
    »Entweder steht uns allen ein Backofen bevor, oder wir ertrinken«, brummte der Mann und sagte sintflutartigen Regen und Hitzewellen voraus.
    Jude hörte so etwas nicht zum erstenmal - die Engländer waren vom Wetter praktisch besessen. Aber sie kam aus den Ruinen von Yzordderrex, erinnerte sich an das brennende Auge des Kometen, roch noch immer den Gestank des Todes. Vor diesem Hintergrund entfaltete das apokalyptische Gerede des Fahrers eine beunruhigende Wirkung. Er schien es zu begrüßen, daß seiner kleinen Welt ein Kataklysmus bevorstand 842

    - ohne zu ahnen, was so etwas bedeutete.
    Als er das Interesse daran verlor, sich anbahnendes Verderben zu schildern, stellte er eine Frage nach der anderen.
    Woher kamen Judith und ihr Begleiter? Wohin waren sie unterwegs gewesen, als der Regen begann? Sie sah keinen Grund, ihren Aufenthalt im Bereich des Anwesens zu verschweigen, und mit einer entsprechenden Bemerkung erreichte sie etwas, das sie seit einer Dreiviertelstunde vergeblich versucht hatte: Sie brachte den jungen Mann zum Schweigen. Er warf ihr einen finsteren Blick zu, schaltete das Radio ein und bewies mit seinem Verhalten, daß der Name Godolphin genügte, um selbst jemanden wie ihn still werden zu lassen. Ohne ein weiteres Gespräch setzten sie die Fahrt zum Stadtrand von London fort, und der Mann am Steuer gab nur dann einen Ton von sich, wenn er Richtungshinweise brauchte.
    »Möchtest du beim Atelier abgesetzt werden?« wandte sich Judith an Gentle.
    Er zögerte zunächst, überlegte und nickte dann. Jude beschrieb ihrem Chauffeur den Weg, und wenige Sekunden später glitt ihr Blick wieder zu Zacharias. Er starrte noch immer aus dem Fenster, und Regennässe perlte wie Schweiß auf Stirn und Wangen, tropfte von Nase und Kinn. Der Hauch eines Lächelns klebte in den Mundwinkeln. Als sie ihn auf diese Weise sah... bedauerte sie fast, daß sie kurz nach dem Retransfer in der Fünften Domäne mit einer schroffen Ablehnung auf seine Annäherungsversuche reagiert hatte. Sie dachte jetzt nicht an das Selbst, das sich hinter dem Gesicht verbarg, rückte allein seine sanften Züge in den Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit: Sie waren ihr im Traum erschienen, während des Schlafs in Quaisoirs Bett; und der imaginäre Liebhaber hatte sie mit so intensiver Ekstase erfüllt, daß ihr lautes Stöhnen die zwei Zimmer entfernt ruhende Schwester geweckt hatte. Eines stand fest: Sie konnten nicht erneut zu dem Liebespaar werden, dem vor zwei Jahrhunderten Freude 843

    und Glück zuteil geworden war. Aber die gemeinsame Vergangenheit schuf Verbindungen, die es noch zu entdecken und zu erforschen galt. Anschließend mochten die visionären Erlebnisse in Quaisoirs Bett tatsächlich einen Platz in der Realität finden.
    Das Unwetter war zur Stadt vorausgeeilt, lud dort seine Regenlast ab und zog weiter. Als der Wagen durch die Peripherie von London rollte, wichen die Wolken blauem Himmel, der einen warmen, wenn auch feuchten Abend versprach. Es herrschte dichter Verkehr, und für die letzten fünf Kilometer brauchten sie ebenso lange wie für die ersten fünfzig. Der Fahrer war an die ruhigen Straßen in der Nähe des Anwesens gewöhnt und gab sein Schweigen auf, fluchte immer wieder und wies mehrfach darauf hin, daß er für all seine Mühen einen wahrhaft großzügigen Lohn verdiente.
    Judith stieg ebenfalls aus, begleitete Gentle zur Tür und fragte leise, ob er genug Geld habe, um den Mann zu bezahlen.
    Der Typ ginge ihr immer mehr auf die Nerven, fügte sie hinzu, und deshalb wollte sie ein Taxi nehmen. Zacharias erwiderte, daß ihn im Atelier bestimmt nicht viel Bares erwartete.
    »Dann bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als mich von ihm nach Hause bringen zu

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