Imagica
respektieren. Andererseits: In Clems Stimme hörte sie deutlich, wie sehr er sich nach der Wahrheit sehnte.
»Er ist fort gewesen, stimmt's? Klein wollte ihn anrufen, aber das Telefon war nicht mehr angeschlossen. Er schrieb einen Brief, bekam jedoch keine Antwort...«
»Ja«, sagte Judith. »Ich glaube, er war fort.«
»Aber jetzt ist er zurückgekehrt.«
»Tatsächlich?« erwiderte Jude. Ihre Verwirrung wuchs.
»Vielleicht weißt du mehr als ich.«
»Oh, ich nicht.« Clem genehmigte sich einen zweiten Brandy. »Taylor.«
»Taylor? Was soll das heißen?«
Judiths Besucher trank. »Was ich dir jetzt gleich erzählen werde... Es klingt verrückt. Aber versprich mir bitte, dir alles anzuhören.«
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»Ich verspreche es.«
»Nach seinem Tod bin ich nicht sentimental gewesen. Ich habe nicht zu Hause gesessen, seine Liebesbriefe gelesen und mir die Musik angehört, zu der wir tanzten. Statt dessen gab ich mir Mühe, so oft wie möglich unterwegs und aktiv zu sein.
Allerdings konnte ich mich nicht dazu durchringen, sein Zimmer zu verändern, Kleidung und Bettlaken fortzubringen.
Das habe ich immer wieder hinausgeschoben. Und je länger ich damit wartete, desto schwieriger wurde alles. Nun, als ich heute abend heimkehrte, hörte ich jemanden sprechen.« Clem wirkte nun wie erstarrt - nur seine Lippen bewegten sich, als er völlig in den Erinnerungen aufging. »Ich dachte zunächst, ich hätte vergessen, das Radio auszuschalten, doch dann wurde mir klar, woher die Stimme kam: von oben, aus Taylors Zimmer.
Er war es, Judy. Er sprach ganz deutlich, rief mich so zu sich wie damals. Und damit jagte er mir einen solchen Schrecken ein, daß ich fast aus dem Haus geflohen wäre. Dumm, nicht wahr? Dauernd habe ich auf ein Zeichen von ihm gehofft, auf einen Hinweis darauf, daß er bei Gott weilt. Und als es schließlich dazu kam, zitterte ich wie Espenlaub. Eine halbe Stunde lang verharrte ich vor der Treppe und wünschte mir nichts sehnlicher, als daß er endlich damit aufhörte, meinen Namen zu rufen. Manchmal schwieg er, und bei solchen Gelegenheiten versuchte ich mich davon zu überzeugen, es sei alles nur Einbildung. Aber dann hörte ich ihn erneut. Oh, es war nichts Melodramatisches: Er forderte mich nur immer wieder auf, keine Angst zu haben und zu ihm zu kommen. Und schließlich ging ich die Treppe hoch.«
Clems Augen füllten sich mit Tränen, aber es vibrierte kein Kummer in der Stimme. »Ihm gefiel das Zimmer am Abend.
Weil dann der Sonnenschein durchs Fenster glänzt. Das war auch heute abend der Fall: Helles Licht füllte den Raum. Und Taylor stand dort, im Licht. Ich konnte ihn nicht sehen, doch ich wußte um seine unmittelbare Präsenz, denn die Stimme 850
erklang direkt vor mir. Er meinte, ich sähe gut aus. Und dann sagte er: ›Ein herrlicher Tag, Clem: Gentle ist zurückgekehrt, und er hat die Antworten.‹«
»Welche Antworten?« erkundigte sich Judith.
»Das habe ich ebenfalls gefragt: ›Welche Antworten, Tay?‹
Aber du weißt ja: Taylor verhält sich wie ein Kind, wenn er sich über etwas freut.« Clem lächelte verträumt und betrachtete Erinnerungsbilder, die ihm eine glückliche Vergangenheit zeigten. »Er betonte mehrmals, Gentle sei zurückgekehrt; das schien ihm sehr wichtig zu sein.« Er sah auf. »Das Licht verblaßte allmählich«, fuhr er fort. »Und ich glaube, er wollte es ins Nichts begleiten. Er wies noch darauf hin, es sei unsere Pflicht, Gentle zu helfen. Deshalb erschiene er mir auf diese Weise. Es fiele ihm nicht leicht. Und das gelte auch für die Aufgaben des Schutzengels. Ich fragte: ›Warum nur einer?
Warum nur ein Engel für uns zwei?‹ Und er antwortete: ›Du irrst dich, Clem; wir sind eins. Das waren wir immer, und wir werden es für immer bleiben.‹ So lauteten seine Worte - ich schwöre es. Dann verschwand er. Und weißt du, woran ich immer wieder denke?«
»Nein. Woran?«
»Ich bedauere, daß ich auf der Treppe gewartet und soviel Zeit vergeudet habe, anstatt mit ihm zusammen zu sein.« Clem setzte sein Glas ab, holte ein Papiertaschentuch hervor und putzte sich die Nase. »Das ist alles«, sagte er.
»Es ist eine ganze Menge.«
Er lachte leise und ein wenig bitter. »Bestimmt gehen dir jetzt folgende Gedanken durch den Kopf, Judy: Armer Clem; er steckt so voller Kummer, daß er Halluzinationen hat.«
»Nein«, erwiderte Judith sanft. »Ich denke - Gentle weiß gar nicht, wie gut er dran ist, euch beide als Schutzengel zu haben...«
»Du verspottest
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