Imagica
gesessen, noch immer so verblüfft, daß sie kaum merkte, wie die Zeit verging.
Einerseits war Gentles Heirat lächerlich, aber andererseits fand Jude nicht die Kraft, sich darüber zu amüsieren.
Ihr letzter Aufenthalt in der Wohnung lag Wochen zurück -
nur die widerstandsfähigsten, zähesten Pflanzen hatten überlebt, und sie wußte nicht mehr, wie die Kaffeemaschine funktionierte -, aber die Zimmer stellten noch immer ihr Heim dar. Jude trank zwei Tassen Kaffee, duschte, zog saubere Kleidung an und spürte, wie die Distanz zur Zweiten Domäne immer mehr wuchs. Angesichts so vieler vertrauter Dinge erschien ihr die fremdartige Exotik von Yzordderrex nicht mehr als Stärke, sondern als Schwäche. Das Unterbewußtsein begann bereits damit, eine massive Mauer zu bauen zwischen jenem anderen Ort und dem hier. Judith dachte an Oscars Ritual nach seinen Reisen, die Schatzkammer aufzusuchen, um dort seine Sammlung zu bewundern. Das Koffein vertrieb die Müdigkeit aus ihr, die sie während der Fahrt nach London in einen Kokon der Benommenheit gehüllt hatte, und so beschloß sie nun, den Abend zu nutzen, um Oscars Haus einen Besuch abzustatten.
Auf ihre Anrufe reagierte niemand, aber das war kein Beweis für Abwesenheit oder Tod. Nur sehr selten nahm er selbst den Hörer ab - diese Pflicht hatte Dowd erfüllt -, und Jude entsann sich an seine Hinweise darauf, wie sehr er 847
Telefone verabscheute. Die gewöhnlichen Leute im Paradies schicken Telegramme, und die Heiligen verwenden sprechende Brieftauben; alle Telefone sind in der Hölle installiert. So lautete eine von Godolphins Weisheiten.
Um sieben stieg Judith in ein Taxi und ließ sich zur Regent's Park Road bringen. Das ganze Haus erweckte einen verriegelten Eindruck: Selbst die Fensterläden waren geschlossen, was an einem so milden Abend auf leere Räume hindeutete. Jude näherte sich dem rückwärtigen Teil des Gebäudes und spähte ins Hinterzimmer. Drei Papageien hockten dort auf Sitzstangen, und als sie das Gesicht am Fenster bemerkten, kreischten sie laut. Sie beruhigten sich nicht, als sich Judith vorbeugte, die Hände rechts und links an die Stirn gelegt, um zu erkennen, ob die Näpfe mit Körnern und Trinkwasser gefüllt waren. Die Schatten im Zimmer hinderten sie daran, Gewißheit zu erlangen, doch das unruhige Gebaren der bunten Vögel wies aufs Schlimmste hin. Oscar schien sich seit einer ganzen Weile nicht um sie gekümmert zu haben. Woraus sich die Frage ergab: Wo befand er sich? Lag er tot auf dem Anwesen, irgendwo im hohen Gras? Unter solchen Umständen kam es Wahnsinn gleich, jenen Ort aufzusuchen und nach der Leiche Ausschau zu halten - nur noch eine Stunde trennte den Tag von der Nacht. Außerdem: Die Erinnerung zeigte ihr einen Oscar, der sich in die Höhe stemmte, während der Transfer sie zur Zweiten trug. Er war robust, trotz seiner Exzesse; sie konnte nicht glauben, daß ihn der Tod ereilt hatte.
Nein, wahrscheinlich versteckte er sich vor der Tabula Rasa.
Mit diesem Gedanken kehrte sie zur vorderen Tür des Hauses zurück, schrieb dort eine anonyme Notiz - sie sei am Leben, und es ginge ihr gut - und deponierte den Zettel im Briefkasten.
Für Oscar konnte kein Zweifel daran bestehen, von wem jene Worte stammten. Wer außer Judith teilte ihm mit, daß der yzordderrexianische Expreß sie wieder nach Hause gebracht hatte?
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Kurz nach halb elf bereitete sich Jude darauf vor, zu Bett zu gehen - und hörte, wie draußen auf der Straße jemand ihren Namen rief. Sie ging zum Balkon und sah Clem, der zu versuchen schien, sich die Lungen aus dem Leib zu brüllen.
Monate waren seit ihrem letzten Gespräch verstrichen, und es bereitete ihr nun Gewissensbisse, ihn so sehr vernachlässigt zu haben. Doch die Erleichterung in seiner Stimme und freudige Umarmungen vermittelten eine klare Botschaft: Clem kam nicht, um Entschuldigungen von ihr zu verlangen. Er müsse ihr unbedingt etwas erzählen, meinte er und fügte eine Warnung hinzu: Bestimmt hielte sie ihn für verrückt. Aber bevor er damit begann, von Außergewöhnlichem und Wunderbarem zu berichten, brauchte er einen Drink. Ob sie einen Brandy für ihn habe? »Natürlich«, erwiderte Judy. Er leerte das Glas fast in einem Zug.
»Wo ist Gentle?« brachte er dann hervor.
Die Frage sowie der scharfe Tonfall überraschten Judith, und sie zögerte. Gentle hatte erwähnt, daß er ›unsichtbar‹ bleiben wollte, und trotz ihres Grolls auf ihn fühlte sie sich verpflichtet, diesen Wunsch zu
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