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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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lassen«, sagte Judith. »Möchtest du, daß ich mit nach oben komme? Hast du einen Schlüssel?«
    »Bestimmt ist jemand im Erdgeschoß«, erwiderte Gentle.
    »Und dort gibt es einen Zweitschlüssel.«
    »Tja, das war's dann wohl.« Diese Art von Abschied erschien Jude banal. Nach all den Ereignissen in Imagica...
    »Ich rufe dich an, wenn wir beide geschlafen haben.«
    »Wahrscheinlich ist mein Telefon nicht mehr angeschlossen.«
    »Dann ruf mich aus einer Telefonzelle an, in Ordnung? Ich bin nicht bei Oscar, sondern zu Hause.«
    An dieser Stelle hätte das Gespräch enden können - wenn nicht die folgende Bemerkung gewesen wäre.
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    »Meinetwegen brauchst du dich nicht von ihm fernzuhalten«, sagte Gentle.
    »Wie meinst du das?«
    »Du hast ein Recht auf deine Affären...«
    »Und du auf deine?«
    »Nicht unbedingt«, entgegnete Zacharias leise.
    »Wie soll ich das verstehen?«
    »Von ›Affären‹ kann in diesem Zusammenhang kaum die Rede sein.« Gentle schüttelte den Kopf. »Schon gut. Wir sprechen ein anderes Mal darüber.«
    »Nein.« Judith griff nach seinem Arm, als er sich von ihr abwenden wollte. »Wir erörtern die Sache jetzt.«
    Gentle seufzte. »Es ist nicht weiter wichtig«, behauptete er.
    »Und wenn schon. Ich möchte trotzdem Bescheid wissen.«
    Er zögerte einige Sekunden lang, bevor er murmelte: »Ich habe geheiratet.«
    »Ach, tatsächlich?« Jude versuchte, sich ihre Betroffenheit nicht anmerken zu lassen. »Und wer ist die Glückliche? Etwa das Mädchen, von dem du erzählt hast?«
    »Huzzah? Um Himmels willen, nein!«
    Gentle zögerte erneut, und Falten fraßen sich ihm tief in die Stirn.
    »Heraus damit.«
    »Mein Ehepartner heißt Pie'oh'pah.«
    Die Vorstellung war absurd, aber das Lachen blieb Judith im Halse stecken, als sie Gentles Gesichtsausdruck sah. Er erlaubte sich keinen Scherz mit ihr und hatte tatsächlich den Killer geheiratet - jenes geschlechtslose Wesen, das auf alle Wünsche des Liebhabers einging. Warum bin ich jetzt so verblüfft? dachtesie. Als Oscar mir die Spezies beschrieb...
    Habe ich nicht geantwortet, dabei müßte sich Gentle wie im Paradies fühlen?
    »Eine echte Überraschung«, sagte sie schließlich.
    »Früher oder später hätte ich dich darauf hingewiesen.«
    845

    Jude gestattete sich ein leises, bitteres Lachen.
    »Und es wäre dir fast gelungen, mich davon zu überzeugen, daß eine tiefere Verbindung zwischen uns existiert.«
    »Weil es die Wahrheit ist«, betonte Gentle. »Es existiert etwas zwischen uns. Das wird immer der Fall sein.«
    »Warum sollte das jetzt noch eine Rolle spielen?« fragte Jude.
    »Ich muß an dem festhalten, was ich einst gewesen bin. An meinen Träumen.«
    »Und was träumst du?«
    »Ich träume, daß wir drei...« Gentle unterbrach sich und seufzte. »Ich träume, daß wir drei eine Möglichkeit finden, zusammen zu sein.« Er mied Judiths Blick, starrte auf eine bestimmte Stelle des Bodens und wünschte sich vermutlich, daß der Mystif dort stehen würde. »Pie hätte sicher gelernt, dich zu lieben...«
    »Ich will nichts mehr davon hören«, sagte Jude scharf.
    »Er wäre alles gewesen, was du begehrst. Alles.«
    »Sei still!«
    Zacharias hob und senkte die Schultern. »Jetzt ist es zu spät«, fuhr er fort. »Pie'oh'pah starb. Und wir gehen getrennte Wege. Es war nur ein törichter Traum von mir. Ich dachte, du wolltest davon erfahren.«
    »Ich will überhaupt nichts von dir«, erwiderte Judith kühl.
    »Behalt deine Verrücktheiten von jetzt an für dich!«
    Sie hatte Gentles Arm längst losgelassen und rechnete damit, daß er nun die Treppe hochginge. Aber er blieb stehen und beobachtete sie - dabei sah er aus wie ein Betrunkener, der sich bemühte, klar zu denken. Nach einer Weile gab sich Jude einen Ruck, wich zurück und schüttelte den Kopf, als sie übers regenfeuchte Pflaster zum Wagen ging. Sie stieg ein, und der junge Mann am Steuer fuhr sofort los.
    Gentle stand noch immer vor der Treppe und sah der ver-schwundenen Judith nach, auf den Lippen unausgesprochene 846

    Worte des Friedens. Als Rekonziliant war er heimgekehrt, aber schon hatte er eine Wunde aufgerissen, die er nicht heilen konnte - zumindest nicht im gegenwärtigen Zustand. Er brauchte Ruhe und Schlaf, um seine Kräfte zu erneuern.
    3
    Fünfundvierzig Minuten nach dem grußlosen Abschied von Gentle öffnete Judith die Fenster ihrer Wohnung, um frische Luft und den Sonnenschein des späten Nachmittags hereinzulassen. Wie betäubt hatte sie im Wagen

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