Imagica
Blaulichts durch die Fenster zuckte. Wenige Sekunden später folgte eine zweite Sirene der ersten. Sie verklang kurz darauf, doch das flackernde Licht blieb, veränderte die Farbe und wurde weiß, stellte die einstige Pracht im Innern des Hauses wieder her. Doch jetzt war es kein Ort mehr, wo Debatten stattfanden, wo man lachte. Hier und dort schluchzten Stimmen, und der Geruch von Furcht klebte in allen Ecken. Donner ließ das Dach erzittern, aber es prasselte kein Regen, um den heißen Zorn des Gewitters zu kühlen.
Ich möchte nicht mehr hier sein, dachte Zacharias. Die anderen Erinnerungen hatten ihn interessiert und unterhalten; ihm gefiel seine Rolle bei den Geschehnissen. Diese Dunkelheit hingegen war eine ganz andere Sache. Sie enthielt den Tod, und sein Instinkt drängte zur Flucht.
Erneut blitzte es, und in dem kurzlebigen grellen Licht sah er Lucius Cobbitt: Er stand auf der Treppe und hielt sich so am Geländer fest, als könnte er sonst das Gleichgewicht verlieren und fallen. Er hatte sich auf Zunge oder Lippe gebissen, und eine Mischung aus Blut und Speichel rann ihm aus dem Mund, tropfte vom Kinn. Der Maestro stieg die Stufen hoch und roch dabei den Gestank von Exkrementen. Der junge Mann hatte im wahrsten Sinne des Wortes die Hose voll. Er hob den Kopf, als er Gentle bemerkte. »Warum ging es schief?« fragte Lucius.
»Warum?« Gentle schauderte, als die Frage weitere Erinnerungsbilder brachte, noch grauenhafter als jene Szenen, die er im Bereich der Rasur beobachtet hatte. Der Fehlschlag bei den Rekonziliationsbestrebungen kam ganz plötzlich und überraschte die fünf Maestros während eines kritischen Zeitpunkts, deshalb konnten sie keine Barriere errichten, um das Unheil fernzuhalten. Ihre Selbstsphären hatten bereits die jeweiligen Kreise in Imagica verlassen und Analoga der Domänen zum Ana getragen, einer unantastbaren Zone, die alle 875
zweihundert Jahre im Zentrum des In Ovo erschien. Für begrenzte Zeit konnten dort Wunder geschehen: Einerseits waren die Maestros vor den Bewohnern des In Ovo geschützt, und andererseits bekamen sie aufgrund ihres körperlosen Zustands, der sie vom Ballast des Fleischlichen befreite, noch mehr Macht. Unter ihrer Anleitung begann das Ana damit, die Einheit der Domänen zu vervollständigen. Sie erzielten gute Fortschritte, und ein Erfolg rückte in greifbare Nähe - als plötzlich der Kreis brach, der den Leib des Maestros Sartori vom Draußen abschirmte. Mit einem solchen Zwischenfall hatte niemand gerechnet. Er war ebenso unwahrscheinlich wie eine Transsubstantiation, die sich nicht durchführen ließ, weil Salz im Brot fehlte. Doch das Unwahrscheinliche - das Unmögliche - wurdeentsetzliche Realität. Zwischen Ana und In Ovo entstand ein Riß, der rasch in die Breite wuchs und nur geschlossen werden konnte, wenn die Maestros zum Körperlichen zurückkehrten und Gebrauch von ihrem ganzen magischen Potential machten. Bis dahin hatten die hungrigen Geschöpfe des In Ovo freien Zugang zur Fünften. Und nicht nur zur Fünften, sondern auch zum Fleisch der Maestros, die überstürzt aus dem Ana flohen und das Grauen mitnahmen.
Vermutlich wäre Sartoris Leben ebenso verwirkt gewesen wie das der anderen, wenn Pie'oh'pah nicht eingegriffen hätte.
Als der Kreis brach, murmelte der Mystif etwas von bevorstehendem Verderben, eine Prophezeiung, die das Publikum in der sogenannten Zuflucht beunruhigte und Godolphin zu der Anweisung veranlaßte, ihn nach draußen zu bringen. Die Pflicht fiel Abelove und Lucius Cobbitt zu, doch es gelang ihnen nicht, Pie festzuhalten. Der Mystif riß sich los, eilte durch die Kammer und sprang in den Kreis, wo sich der Maestro den Zuschauern nur mehr als ein leuchtendes Etwas darbot. Pie hatte als Sartoris Diener eine Menge gelernt und wußte, worauf es ankam, um den destruktiven Energien im Kreis lange genug Widerstand zu leisten. Er zog den Maestro 876
heraus, bevor die Monstren des In Ovo Gelegenheit bekamen, über ihn herzufallen.
Die übrigen Anwesenden hörten hier die warnenden Rufe des Mystifs und sahen dort Roxboroughs Bestreben, den Status quo zu erhalten. Verwirrung hielt sie gefangen, bis die Oviaten erschienen.
Die Entitäten waren schnell. In einem Augenblick stellte die Zuflucht noch eine Brücke zum Transzendentalen dar, und im nächsten metamorphierte sie zu einem Schlachthaus. Der Maestro hatte einen triumphalen Sieg erwartet und sich innerlich darauf vorbereitet, daß man ihm zujubelte; die Katastophe
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