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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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den Ruhm voll auszukosten? Der Maestro hielt nicht mit Tadel zurück, wenn er diese Beichten entgegennahm, aber der größte Teil seines Ärgers diente nur dazu, den Schein zu wahren. Zuschauer, die alles beobachteten und ihn bewunderten... Diese Vorstellung verschaffte ihm angenehme Erregung. Und wenn das Ziel der Rekonziliation erreicht war: Je mehr Personen davon berichteten und den Maestro priesen, um so besser.
    »Ich bitte Sie, Sir«, drängte Lucius. »Wenn Sie mir die Erlaubnis geben..., dann stehe ich für immer in Ihrer Schuld.«
    Gentle nickte und klopfte dem jungen Mann auf die Schulter.
    »Na schön, du kannst zusehen.«
    Tränen glänzten in Lucius' Augen; er griff nach der Hand des Maestros und hob sie an die Lippen. »Ich bin der glücklichste Mann in ganz England«, hauchte er. »Danke, Sir. Vielen Dank.«
    Gentle schenkte Lucius ein wohlwollendes Lächeln, ließ ihn an der Tür zurück und betrat das Eßzimmer. Dabei fragte er 867

    sich, ob damals wirklich alles auf diese Weise geschehen war.
    Oder verwandte sein Gedächtnis Erinnerungsfragmente von verschiedenen Tagen und Nächten, um sie zu einer scheinbar nahtlosen Pseudo-Realität zu verbinden? Er vermutete, daß die zweite Möglichkeit zutraf, und wenn er recht hatte... Dann enthielten diese Szenen Hinweise auf Geheimnisse, die erst noch entschleiert werden mußten; dann sollte er versuchen, sich an alle Einzelheiten zu entsinnen. Es fiel ihm schwer. Hier war er sowohl Gentle als auch Sartori - sowohl Beobachter als auch Teilnehmer. Es bereitete ihm erhebliche Mühe, eine aktive Rolle bei den Geschehnissen zu spielen, während er sie gleichzeitig aus der Perspektive des Unbeteiligten erlebte.
    Noch größere Schwierigkeiten ergaben sich dabei, nach dem Saum der Bedeutung Ausschau zu halten, wenn alles so faszinierend glänzte und das hellste Schimmern von ihm selbst ausging. Wie sehr sie ihn verehrt hatten! Wie ein Gott war er für sie gewesen, selbst ein Rülpsen von ihm kam einer heiligen Botschaft von kosmischer Bedeutung gleich. Auch die Mächtigen der Fünften begegneten ihm mit Ehrfurcht und Respekt. Und er fand Gefallen daran, genoß die ihm geltende Aufmerksamkeit.
    Drei der Mächtigen erwarteten ihn im Eßzimmer, saßen dort am Ende eines Tisches, der für vier Personen gedeckt war; doch die bereitgestellten Speisen hätten ausgereicht, alle Bewohner der Gamut Street eine Woche lang zu ernähren.
    Natürlich gehörte Joshua zum Trio, und die beiden anderen hießen Roxborough sowie Oliver McGann. Letzterer schien zumindest angetrunken zu sein, während Roxborough zurückhaltend wirkte. Eine lange, hakenförmige Nase dominierte in seinem Gesicht, das er immer teilweise hinter den Händen verbarg. Er verabscheute seinen Mund, weil er wußte, daß die Lippen sein wahres Wesen verrieten: Er mochte unermeßlich reich sein und etwas von Metaphysik verstehen, aber er war auch mürrisch, verdrießlich und geizig.
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    »Religion ist für die Gläubigen!« verkündete McGann laut.
    »Sie beten, und ihre Gebete werden nicht erhört. Trotzdem -
    oder gerade deshalb - glauben sie mit noch mehr Hingabe. Magie hingegen...« Er unterbrach sich, und sein trüber Blick glitt zum Maestro an der Tür. »Ah, da ist er ja! Sartori! Sagen Sie ihm, was es mit Magie auf sich hat.«
    Roxborough hatte eine Pyramide aus seinen Fingern geformt, der Nasenrücken bildete die Spitze.
    »Ja, Maestro«, fügte er hinzu. »Sagen Sie's mir. Beziehungsweise uns.«
    »Gern.« Gentle nahm das von McGann eingeschenkte Glas Wein entgegen und befeuchtete sich den Gaumen, bevor er die Weisheiten dieses Abends proklamierte.
    »Magie ist die erste und letzte Religion der Welt«, sagte er.
    »Sie hat die Macht, uns eins werden zu lassen, unsere Augen für die Domänen zu öffnen, uns eine Rückkehr zum eigenen Selbst zu ermöglichen.«
    »Klingt gut«, erwiderte Roxborough. »Aber was bedeutet das?«
    »Die Bedeutung ist offensichtlich«, behauptete McGann.
    »Nun, für mich nicht.«
    »Wir sind geteilt geboren, Roxborough«, sagte der Maestro.
    »Und wir sehnen uns nach Einheit.«
    »Ach, tatsächlich?«
    »Ich glaube schon.«
    »Und warum sollten wir die Einheit mit uns selbst anstreben?« fragte Roxborough. »Erklären Sie mir das. Ich dachte immer, wir sind bereits wir.«
    Eine gewisse Selbstgefälligkeit erklang in der Stimme des Mannes, doch der Maestro ärgerte sich nicht darüber. Er war an solche subtilen Herausforderungen gewöhnt, und seine Antworten lagen

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