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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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der Maestro. Er legte dem zitternden Cobbitt die Hände auf die Schultern und sprach sanfter als vorher. »Ich weiß nicht, wie es zu dieser Tragödie kam, aber ich ahne eine Verschwörung. Jemand hat unsere Bemühungen sabotiert, und vielleicht hätte ich die Gefahr bemerkt - wenn ich nicht zu sehr von meinem eigenen Ruhm geblendet gewesen wäre. Dich trifft keine Schuld, Lucius. Und dich dem Tod preiszugeben... Damit holst du Abelove, Esther und die anderen nicht ins Leben zurück. Hör auf mich.«
    »Ich höre.«
    »Möchtest du noch immer mein Adept sein?«
    »Natürlich.«
    »Bist du bereit, allen meinen Anweisungen zu gehorchen?«
    »Ja. Ganz gleich, was Sie von mir verlangen: Ich bin in jedem Fall Ihr treuer Diener.«
    »Nimm meine Bücher. Nimm so viele, wie du tragen kannst, und bring sie so weit wie möglich fort. Zum anderen Ende von Imagica, wenn du dazu imstande bist. Such mit ihnen einen Ort auf, wo dich Roxborough und seine Schergen nicht finden.
    Männern wie uns steht ein sehr schwieriger Winter bevor - nur die Klügsten werden ihn überleben. Du kannst klug sein, nicht 882

    wahr?«
    »Ja.«
    »Ich weiß.« Der Maestro lächelte. »Deine Aufgabe heißt: im geheimen Wissen sammeln, außerhalb der Zeit leben. Auf diese Weise bleiben die verstreichenden Jahre ohne Einfluß auf dich. Dann kannst du es noch einmal versuchen, wenn Roxborough tot ist.«
    »Und Sie, Maestro?«
    »Wenn ich Glück habe, vergißt man mich. Aber man wird mir nie verzeihen. Nein, das wäre zuviel verlangt. Sei nicht so deprimiert, Lucius. Ich brauche wenigstens etwas Hoffnung, und ich gebe sie dir mit.«
    »Es ist mir eine Ehre, Maestro.«
    In Gentle regte sich ein neuerliches Deja-vu-Empfinden, und er erinnerte sich: Ein ähnliches Gefühl war in ihm entstanden, als er Lucius vor der Tür des Eßzimmers gesehen hatte. Doch es blieb vage und verschwand, bevor er es zu deuten vermochte.
    »Denk daran, Lucius: Was du lernen wirst, ist bereits Teil von dir und auch der Gottheit. Erwirb neues Wissen in dem Bewußtsein, daß es längst in dir weilt. Wenn du etwas verehrst, so stell dabei eine direkte Beziehung zu deinem wahren Selbst her. Und fürchte nichts...« Der Maestro zögerte und schauderte wie bei einer dunklen Vorahnung. »Fürchte nichts, es sei denn in der Gewißheit, daß du der Schöpfer deines Feindes bist und seine einzige Chance für Heilung. Denn was Unheil bringt, ist ein Opfer innerer Qual. Kannst du das alles im Kopf behalten?«
    Der junge Mann schürzte unsicher die Lippen. »Ich werde es zumindest versuchen.«
    »Was genügen muß«, sagte der Maestro. »Und nun... Bring dich in Sicherheit, bevor die Säuberungsaktion beginnt.«
    Er ließ die Schultern des jungen Mannes los, und Lucius entfernte sich rückwärts gehend, wie ein Untertan vor dem König.
    883

    Erst unten, am Ende der Treppe, drehte er sich um und eilte fort.
    Das Gewitter schien nun direkt über dem Haus zu sein, und mit Lucius verschwand auch der Exkrementengestank - schon nach wenigen Sekunden roch Gentle Elektrizität. Die Kerzenflamme flackerte, und er rechnete schon damit, daß sie erlosch, daß die Dunkelheit ein Ende der Erinnerungen ankündigte, zumindest für diesen Abend. Doch es kam noch mehr.
    »Das war nett und freundlich«, sagte Pie'oh'pah.
    Zacharias wandte sich um und sah den Mystif am oberen Ende der Treppe. Schmutz störte ihn, und deshalb hatte er sich umgezogen, trug nun eine schlichte Hose und ein ebenso einfaches Hemd. Trotz dieser unauffälligen Aufmachung wirkte er perfekt. In ganz Imagica gab es kein schöneres Gesicht, keine anmutigere Gestalt, fand Gentle. Das eben noch einmal erlebte Entsetzen verlor an Bedeutung, während er die sanften Züge betrachtete. Doch der damalige Maestro hatte noch nicht den Fehler gemacht, dieses Wunder zu verlieren: Durch Pie'oh'pahs Präsenz fühlte er sich nur entlarvt.
    »Du warst hier, als Godolphin eintraf?« fragte er.
    »Ja.«
    »Dann weißt du von Judith?«
    »Ich kann mir denken, was geschehen ist.«
    »Ich habe es dir gegenüber verschwiegen, weil ich weiß, daß du von solchen Dingen nichts hältst...«
    »Es steht mir nicht zu, zu loben oder Kritik zu üben. Ich bin nicht Ihr Ehepartner, auf daß Sie Grund hätten, meinen Tadel zu fürchten.«
    »Und doch ist das der Fall. Ich dachte: Wenn die Rekonziliation gelungen ist, wird man sicher verzeihen, daß ich mir diese kleine Freiheit genommen habe. Jetzt scheint es sich um ein Verbrechen zu handeln, das ich sehr

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