Imagica
verblüffte ihn so sehr, daß er zunächst gar nicht begriff, was sich anbahnte. Doch die Augen sahen alle gräßlichen Details, und Gentle betrachtete nun die entsprechenden Erinnerungsbilder. Abelove, der entsetzt zu fliehen versuchte, als ein Oviat - das Biest war so groß wie ein Stier, wirkte jedoch wie etwas, das gerade erst die Geburt hinter sich hatte - seinen zahnlosen Rachen öffnete und den Menschen mit peitschenlangen Zungen ins Maul zog. McGann, der den Arm an ein kleines, dunkles Tier verlor, das sich zu kräuseln schien, während es sich bewegte. Flores - armer Flores; erst gestern war er eingetroffen, mit einem von Casanova unterzeichneten Empfehlungsschreiben - geriet zwischen die Pranken von zwei Geschöpfen mit spatenflachen Schädeln. Die Wesen hatten durchsichtige Haut, und deshalb beobachtete Sartori in aller Deutlichkeit die Qualen des Opfers, als das eine Ungeheuer nach Flores' Kopf schnappte, während das andere die Beine fraß.
Doch besonders deutlich erinnerte sich Gentle an den schrecklichen Tod von Roxboroughs Schwester, unter anderem deshalb, weil Roxborough von Anfang an gegen ihre Präsenz bei der Zeremonie gewesen war. Er hatte sich sogar dazu erniedrigt, den Maestro zu bitten, mit der Frau zu reden und sie zur Vernunft zu bringen. Nun, Gentle erfüllte ihm den Wunsch 877
und sprach mit der Schwester, doch dadurch weckte er nur noch mehr Sehnsucht in ihr. Sie kam, um die Rekonziliation zu sehen - und um noch einmal dem Mann zu begegnen, der die Domänen zusammenführte. Für ihre Neugier bezahlte sie einen hohen Preis. Die Wesen kämpften um sie wie Wölfe um einen Knochen, und mit schrillen Schreien erflehte sie Erlösung, als spitze Zähne ihr die Eingeweide aus dem Leib zerrten und den Kopf aufrissen. Während der Maestro mit Pies Hilfe genug Magie beschwor, um die Entitäten zum Kreis zurückzutreiben, starb Roxboroughs Schwester in einem blutigen Haufen, der aus ihren eigenen Gedärmen bestand, zappelnd wie ein Fisch am Haken.
Später erfuhr Sartori von den grauenhaften Ereignissen im Bereich der anderen Kreise. Auch dort fielen die Oviaten über Unschuldige und Wehrlose her, säten Tod, bis die Assistenten der Maestros sie mit magischen Kräften ins In Ovo verbannten.
Nur ein einziger Maestro überlebte: Sartori.
»Ich hätte wie die anderen sterben sollen«, sagte er zu Lucius. »Das wäre besser gewesen.«
Der junge Mann versuchte, ihm zu widersprechen, aber Tränen strömten ihm über die Wangen. Eine andere Stimme ertönte am unteren Ende der Treppe, eine Stimme, die sowohl kummervoll als auch fest klang.
»Sartori! Sartori!«
Er drehte sich um. Joshua stand im Flur, und Blutflecken zeigten sich an seinem taubenblauen Mantel. Und auf den Händen. Und im Gesicht.
»Was geschieht nun?« rief er. »Das Gewitter! Es zerreißt die ganze Welt!«
»Nein, Joshua!«
»Belügen Sie mich nicht! Nie zuvor gab es ein solches Gewitter! Nie!«
»Beherrschen Sie sich...«
»Jesus Christus, o Herr, vergib uns unsere Schuld.«
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»Solche Gebete nützen nichts, Joshua.«
Godolphin hob ein Kruzifix zu den Lippen.
»Sie gottloser Versager! Oder sind Sie vielleicht ein Dämon, vom Teufel geschickt, um unsere Seelen zu holen?« Tränen glitzerten in Joshuas Augen. »Aus welcher Hölle kommen Sie?«
»Aus der gleichen wie Sie. Aus der menschlichen.«
»Ich hätte auf Roxborough hören sollen. Er wußte Bescheid!
Immer wieder wies er darauf hin, daß Sie einen Plan haben, aber ich wollte ihm nicht glauben. Weil Judith Sie liebte. Wie kann sich ein so reines Selbst an etwas so Profanes und Verdorbenes verlieren? Aber es ist Ihnen gelungen, das wahre Ich des Maestros vor ihr zu verbergen, wie? Arme Judith! Wie errangen Sie ihre Liebe? Mit irgendeinem bösen Zauber?«
»Spielt nur das eine Rolle für Sie?«
»Heraus damit! Wie?«
Godolphin bebte vor Wut, stieg die Treppe hoch und näherte sich dem Verführer.
Gentle spürte, wie seine rechte Hand zum Mund tastete.
Joshua verharrte - er kannte diese Macht.
»Haben wir heute abend nicht schon genug Blut vergossen?«
fragte der Maestro.
»Sie, nicht wir«, erwiderte Godolphin. Er richtete den Zeigefinger auf Gentle, und das Kruzifix baumelte an seinem Handgelenk. »Von jetzt an finden Sie keinen Frieden mehr«, fuhr er fort. »Roxborough erwägt eine Säuberungsaktion, und ich werde ihm jede erdenkliche Hilfe gewähren, damit es ihm gelingt, Ihnen den Garaus zu machen. Sie und Ihre Werke sind verdammt!«
»Gilt das auch
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