Imagica
Schlüssel, schritt durchs Foyer und näherte sich der schmalsten von drei geschlossenen Türen. Dort verharrte er einige Sekunden lang, bevor er den ausgewählten Schlüssel langsam ins Schloß schob.
Judith sah ihm zu. »Wie oft bist du dort unten gewesen?«
fragte sie.
»Nur zweimal«, entgegnete er. »Es ist kein besonders angenehmer Ort.«
»Ich weiß.«
»Mein Vater hingegen... Er unternahm häufig Streifzüge durch den Keller. Nun, es gibt Regeln und Vorschriften, die verbieten, daß jemand allein in den Gewölben unterwegs ist -
niemand soll in Versuchung geraten, dort Verbotenes zu lesen.
Doch mein Vater kümmerte sich nicht darum. Na endlich!«
Der Schlüssel drehte sich im Schloß. »Das ist die erste. Jetzt kommt die zweite Tür an die Reihe.«
»Hat dir dein Vater vom Keller erzählt?« fragte Judith.
»Gelegentlich. Er wußte mehr von den Domänen, als er eigentlich wissen sollte. Vielleicht beherrschte er sogar den einen oder anderen Zauber. Ich bin mir nicht ganz sicher. Er tat immer sehr geheimnisvoll und verriet nichts. Aber als es mit ihm zu Ende ging, murmelte er im Delirium Namen. Zum Beispiel Patashoqua. Daran erinnere ich mich. Dieses Wort wiederholte er immer wieder.«
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»Glaubst du, daß er jemals in einer anderen Domäne gewesen ist?«
»Ich bezweifle es.«
»Hast du ganz allein herausgefunden, wie man die Fünfte verläßt und Imagica erreicht?«
»Ich habe einige Bücher entdeckt und sie heimlich mit nach Hause genommen. Es war nicht schwer, den Kreis zu benutzen.
Er funktionierte nach wie vor. Die Zeit zerfrißt alles, mit einer Ausnahme: Magie.« Oscar ächzte leise, als er den klemmenden Schlüssel drehte. »Patashoqua hätte meinem Vater sicher gefallen. Aber die Stadt war nur ein Name für ihn, armer Kerl.«
»Nach der Rekonziliation ändert sich alles«, sagte Judith.
»Ich weiß, für deinen Vater kommt sie zu spät...«
»Ganz im Gegenteil«, widersprach Oscar. »Wie ich hörte, sind die Toten ebenso Opfer der Trennung wie wir. Hebbert meinte, es wimmle überall von ihnen. Und angeblich leiden die Seelen der Verstorbenen, seit Imagica nicht mehr eins ist.«
»Gibt es auch hier welche?«
»Und ob«, bestätigte Oscar.
Es knirschte und knackte im Schloß - und dann leistete es keinen Widerstand mehr. Der Schlüssel drehte sich.
»Na bitte.« Godolphin lächelte. »Der reinste Zauber.«
»Wundervoll.« Jude klopfte ihm auf den Rücken. »Du bist ein Genie.«
Aus dem Lächeln wurde ein Grinsen. Der furchterfüllte, verzweifelte Mann, der vor nur einer Stunde in einer Kirche gesessen und vor Angst geschwitzt hatte, wirkte jetzt weitaus gelassener, weil ihn etwas von dem vermeintlichen Todesurteil ablenkte. Er zog nun den Schlüssel aus dem Schloß und drehte den Knauf. Es war eine massive und entsprechend schwere Tür, aber sie schwang sofort auf. Godolphin trat in die Finsternis dahinter.
»Wenn ich mich recht entsinne, gibt es hier irgendwo einen Lichtschalter...« Er bestastete die nahe Wand. »Da haben wir 966
ihn.«
Ein Schalter klickte, und mehrere nackte Glühbirnen, die an Kabeln hingen, erhellten einen großen, holzvertäfelten Raum.
»Dieser Teil des Turms stammt noch aus dem ursprünglichen Roxborough-Haus, ebenso wie der Keller.« In der Mitte des Raums stand ein schlichter Eichentisch mit acht Stühlen. »Allem Anschein nach haben sie sich hier versammelt: die Mitglieder der ersten Tabula Rasa. Im Lauf der Jahre kamen sie immer wieder an diesem Ort zusammen, bis das Haus abgerissen wurde.«
»Wann geschah das?«
»In den späten zwanziger Jahren.«
»Also hat hundertfünfzig Jahre lang irgendein Godolphin-Abkömmling auf einem der Stühle dort gesessen?«
»Ja.«
»Unter ihnen auch Joshua?«
»Wahrscheinlich.«
»Wie viele von ihnen habe ich gekannt?« murmelte Judith.
»Erinnerst du dich daran?«
»Nein, leider nicht. Ich warte noch immer darauf, daß die Erinnerungen zurückkehren. Inzwischen befürchte ich fast, daß sie für immer verloren sind.«
»Vielleicht hast du sie aus einem bestimmten Grund verdrängt«, spekulierte Oscar.
»Warum? Weil sie so entsetzlich sind, daß ich sie nicht ertragen kann? Weil ich eine Hure gewesen bin, die sich am Tisch weiterreichen ließ? Nein, ich glaube, es steckt noch mehr dahinter. Mir fehlen Reminiszenzen, weil ich gar nicht richtig gelebt habe. Ich war wie eine Schlafwandlerin, die niemand aufwecken wollte.«
Jude sah Oscar an, und in ihren Augen schimmerte eine stumme Herausforderung:
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