Imagica
über die Schulter.
»Hast du noch mehr davon?« fragte der Mann und deutete auf die zerbrochenen Stifte.
»Nein. Aber ich kann welche besorgen. Malst du?«
Der Sanfte stand auf. »Manchmal.«
»Benutzt du dabei andere Bilder als Vorlage, so wie ich?«
»Ich erinnere mich nicht.«
»Ich zeig dir, worauf es dabei ankommt. Wenn du möchtest.«
»Nein«, widersprach der Sanfte. »Ich zeichne die Bilder nach denen in meinem Kopf.« Er blickte auf die bunten Stifte in seiner Hand. »Auf diese Weise wird er frei.«
»Kannst du auch was mit richtiger Farbe anfangen?« fragte der Ire, als der Blick des Fremden über den Beton glitt.
»Hast du welche?«
»Carol und ich... Wir sind imstande, dir alles zu beschaffen, Sanfter. Ganz gleich, was du willst.«
»Nun... Bring mir soviel Farbe wie möglich.«
»Mehr nicht? Möchtest du keinen Wein oder etwas anderes?«
Der Fremde schwieg, ging zu der Wand, an die ihn Tolland gepreßt hatte, hob einen gelben Kreidestift und begann damit, 959
eine Sonne zu malen.
2
Judith erwachte gegen Mittag. Elf Stunden waren vergangen, seit Gentle ihr das Ei genommen hatte - jenen Stein, dem sie einen Blick ins Nirwana verdankte -, um anschließend wieder in der Nacht zu verschwinden. Benommenheit haftete an ihren Gedanken, und das Licht schmerzte in den Augen. Unter der Dusche drehte sie das warme Wasser fast ganz zu und gab sich kaltem Naß hin. Doch die Müdigkeit in ihr blieb. Sie trocknete sich halb ab, schritt nackt durch die Küche. Dort stand das Fenster offen, ließ eine kühlende Brise herein, die ihr eine Gänsehaut bescherte. Nun, das war wenigstens ein Lebenszeichen - wenn auch eines, auf das Jude gern verzichtet hätte. Sie kochte Kaffee und schaltete den Fernseher ein, schaltete zwischen den Kanälen und diversen Banalitäten hin und her und beschloß dann, sich anzuziehen. Die Stimmen aus dem TV-Lautsprecher vermischten sich mit dem Blubbern und Zischen der Kaffeemaschine. Das Telefon klingelte, als sie nach ihren Schuhen Ausschau hielt. Diffuse Geräusche am anderen Ende der Leitung, doch es ertönte keine Stimme. Nach einigen Sekunden klickte es, und daraufhin rauschte es nur noch. Judith blieb am Apparat stehen und fragte sich, ob Gentle versuchte, sie zu erreichen. Eine halbe Minute später klingelte es erneut. Diesmal meldete sich jemand: ein Mann, dessen Stimme kaum mehr war als ein heiseres Keuchen.
»Um Himmels willen...«
»Wer spricht da?«
»Oh, Judith... O Gott, o Gott... Judith? Ich bin's, Oscar.«
»Von wo rufst du an?« fragte Jude. Ganz offensichtlich befand er sich nicht in seinem Haus.
»Sie sind tot, Judith.«
»Wen meinst du?«
»Nur ich bin übrig. Und jetzt will es auch mich.«
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»Ich verstehe kein Wort, Oscar. Wer ist tot?«
»Hilf mir... Bitte hilf mir. Es gibt jetzt keinen Ort mehr, der Sicherheit garantiert.«
»Komm zu mir. Ich bin in meiner Wohnung.«
»Nein. Ich warte hier auf dich...«
»Und wo ist ›hier‹?«
»Ich bin bei St. Martin's-in-the-Field. Kennst du den Ort?«
»Was führt dich denn ausgerechnet dort hin?«
»Ich warte in der Kirche. Beeil dich. Es wird mich finden.
Ich bin ganz sicher: Es wird mich finden.«
Im Bereich des Platzes herrschte dichter Verkehr, wie immer um die Mittagszeit. Jene Brise, die vor einer knappen Stunde bei Judith eine Gänsehaut bewirkt hatte, war zu schwach, um die dichten Wolken aus Auspuffgasen aufzulösen und den verärgerten Fahrern Erleichterung zu bringen. Die Luft in der Kirche roch muffig, doch sie schien frisch und voller Sauerstoff zu sein, wenn man sie mit der von Angst und Panik geprägten Atmosphäre verglich, die den Mann am Altar umgab. Er hatte die großen Hände so fest gefaltet, daß die Knöchel weiß hervortraten.
»Ich dachte, du wärest entschlossen gewesen, das Haus nicht zu verlassen«, sagte Judith.
»Etwas wollte mich holen«, erwiderte Oscar, und Entsetzen flackerte in seinen Augen. »Mitten in der Nacht. Es versuchte vergeblich, ins Gebäude vorzudringen. Heute morgen - am heilichten Tag! - kreischten plötzlich die Papageien, und die Hintertür flog aus den Angeln.«
»Hast du die Ursache dafür gesehen?«
»Glaubst du, dann wäre ich jetzt hier? Nein. Nach dem erstenmal war ich vorbereitet. Als ich die Vögel hörte, habe ich nicht gezögert und bin sofort zum vorderen Eingang gelaufen.
Hinter mir krachte es, und das Licht ging aus...«
Godolphin löste die Hände und griff nach Judiths Arm.
»Was soll ich nur machen?« jammerte er.
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