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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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Befreiung wartete, von einer Mauer, die sich immer schneller auflöste. Ziegelsteine lockerten sich, als der Mörtel zwischen ihnen fortrieselte, und die Regale knirschten. Doch der Schrei verlangte Aufmerksamkeit; sie eilte durchs Labyrinth zurück. Das überall widerhallende Krachen der auseinanderbrechenden Wand verursachte ein akustisches Chaos, das Verwirrung stiftete. Trotzdem fand Jude nach einer Weile zur Treppe. Unterwegs rief sie mehrmals nach Oscar, bekam jedoch keine Antwort. Sie stieg die Treppe hoch und erreichte kurze Zeit später das leere Versammlungszimmer. Auch im Foyer befand sich niemand - nur eine Holzlatte vor der Tür wies auf Godolphin hin. Was hatte das zu bedeuten? Judith ging nach draußen, um festzustellen, ob er aus irgendeinem Grund zum Wagen gegangen war, doch 972

    im hellen Sonnenschein zeigte sich keine Spur von ihm. Damit blieb nur eine Möglichkeit: die oberen Bereiche des Turms.
    Besorgnis gesellte sich Judes Ärger hinzu, als sie zur offenen Tür blickte, hinter der sich die Treppe zum Keller erstreckte.
    Sie fühlte sich innerlich hin und her gerissen: Ein Teil von ihr wollte Celestine willkommen heißen; ein anderer drängte danach, Oscar zu folgen. Ein so kräftig gebauter Mann sollte eigentlich imstande sein, sich wirkungsvoll selbst zu verteidigen. Andererseits... Judith glaubte sich zumindest in gewisser Weise für ihn verantwortlich. Immerhin habe ich ihn dazu überredet, mich hierher zu begleiten.
    Eine der Türen schien zu einem Lift zu führen, und als sie darauf zuging, hörte sie das Summen eines Motors - der Aufzug war in Betrieb. Sie wollte keine Zeit verlieren und hastete die Treppe hoch, nahm trotz der Dunkelheit zwei oder drei Stufen auf einmal und gelangte schließlich zur Tür des obersten Stocks. Eine Stimme erklang dahinter, und Jude zögerte kurz. Sie konnte kein Wort verstehen, doch der Tonfall zeichnete sich durch etwas seltsam Gekünsteltes aus. Hatte ein Mitglied der Tabula Rasa überlebt? Vielleicht Bloxham, der Casanova aus dem Keller?
    Jenseits der Tür war es etwas heller, doch die Herrschaft der Schatten blieb unbestritten. Mehrere Zimmer grenzten an den Flur, und angesichts der zugezogenen Vorhänge wohnte Finsternis in ihnen. Judith ließ sich von der Stimme leiten, und es dauerte nicht lange, bis sie weiter vorn eine Doppeltür sah.
    Der eine Flügel stand offen, und dahinter brannte Licht. Jude näherte sich vorsichtig, und ein dicker Teppich dämpfte ihre Schritte. Sie setzte auch dann einen Fuß vor den anderen, als der Sprecher seinen Monolog für einige Sekunden unterbrach.
    An der Tür verharrte sie einige Sekunden lang und dachte daran, daß es keinen Sinn hatte, Zeit zu vergeuden. Sie gab sich einen inneren Ruck und stieß die Tür ganz auf.
    Ein Tisch stand im Zimmer, und darauf lag Oscar - in zwei 973

    Lachen. Licht formte die eine, Blut die andere. Judith schrie nicht, und es quoll auch keine Übelkeit in ihr empor, obwohl Godolphins Brustkasten geöffnet war - er wirkte wie ein Patient während einer schwierigen Operation. Ihre Gedanken rasten über den emotionalen Horizont des Entsetzens hinaus zu dem Mann und seinen Qualen. Oscar lebte. Deutlich sah sie, wie sein in Blut schwimmendes Herz einem exotischen Fisch gleich zappelte.
    Das Messer des Chirurgen lag neben dem Sterbenden. Der Eigentümer jener Klinge war noch im Schatten verborgen, als er sagte:
    »Da bist du ja. Komm herein. Sei nicht schüchtern.« Der Mann hob saubere Hände. »Ich bin's nur, Kindchen.«
    »Dowd...«
    »Oh, daß du dich an mich erinnerst... Damit bereitest du mir eine große Freude.«
    Sein Gebaren wies noch immer theatralische Aspekte auf, aber der fast musikalische Klang war aus der Stimme verschwunden. Er hörte sich an und sah aus wie eine Parodie seiner selbst. Die Gesichtszüge schienen in einer Grimasse erstarrt zu sein.
    »Ja, komm herein und leiste uns Gesellschaft«, fügte er hinzu. »Wir gehören alle zur Familie, nicht wahr?«
    Sein Anblick verblüffte Judith - obgleich Oscar ausdrücklich darauf hingewiesen hatte, daß solche Geschöpfe zäh waren, sich mit bemerkenswerter Hartnäckigkeit am Leben festklammerten -, aber er weckte keine Furcht in ihr. Sie entsann sich an seine Tricks und Täuschungsmanöver, und vor ihrem inneren Auge beobachtete sie noch einmal, wie er über bodenloser Leere hing und um sein Leben flehte. Er war absurd und lächerlich.
    »Übrigens...«, sagte er. »Ich rate dir davon ab, Godolphin zu berühren.«
    Judith

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