Imagica
Wag es nur nicht, familiäre Besitzansprüche auf mich anzumelden. Er schwieg natürlich, ging zum großen Kamin, duckte sich unter den Sims und holte 967
dort einen dritten Schlüssel hervor. Judith hörte, wie er ihn in ein Schloß schob, und vernahm kurz darauf das Mahlen von Zahnrädern und Gegengewichten, als ein uralter Mechanismus in Bewegung geriet. Dann knirschte es, und eine verborgene Tür öffnete sich. Godolphin warf einen Blick über die Schulter.
»Kommst du?« fragte er. »Sei vorsichtig. Die Treppe ist ziemlich steil.«
Sie war nicht nur steil, sondern auch lang. Schon nach sechs oder sieben Stufen verblaßte das aus dem Zimmer weiter oben herabsickernde Licht, und Dunkelheit umhüllte Jude.
Schließlich fand Oscar einen weiteren Schalter, und Lichter erglühten in dem Labyrinth. Ein Gefühl des Triumphes erfaßte Judith. Seit dem ›Traum‹ von Celestines Kerker hatte sie sich immer wieder gewünscht, diesen Ort aufzusuchen, und nun war es endlich soweit. Jetzt wanderte sie dort, wo ihr visionärer Blick unterwegs gewesen war, durch einen Kosmos, der zum größten Teil aus vermodernden Büchern und Manuskripten zu bestehen schien. Jetzt näherte sie sich der Göttin.
»Dies ist die größte Sammlung sakraler Texte seit der Bibliothek von Alexandria«, sagte Oscar. Er sprach im Tonfall eines Lehrers, der seine Klasse durchs Museum führt -
vermutlich wollte er auf diese Weise mit der Ehrfurcht fertig werden, die auch Judith empfand. »Hier gibt es Bücher, von deren Existenz selbst der Vatikan nichts weiß.« Er senkte die Stimme - als existierten andere Besucher des Museums, die er nicht stören wollte. »In jener Nacht, als mein Vater starb...
Kurz vor seinem Tod erzählte er mir von einem Buch, das er hier gefunden hat; angeblich stammt es vom vierten König.«
»Von wem?«
»Es gab drei heilige Könige, erinnerst du dich? So steht's im Evangelium. Aber das ist eine Lüge. Es waren nicht drei, sondern vier, und sie alle suchten nach dem Rekonzilianten.«
»Jesus war ein Rekonziliant?«
»Das behauptete jedenfalls mein Vater.«
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»Und du hast ihm geglaubt?« fragte Judith.
»Er hatte keinen Grund, mich zu belügen.«
»Aber das Buch, Oscar... Vielleicht hat das Buch gelogen.«
»Oder die Bibel. Vielleicht schrieb jener Weise aus dem Morgenland seine Geschichte nieder, weil er wußte, daß er im Evangelium keine Erwähnung finden würde. Er war es, der zum erstenmal den Namen ›Imagica‹ benutzte. Er notierte dieses Wort in seinem Bericht - zum erstenmal in der Geschichte stand es auf dem Papier. Mein Vater sagte, er hätte geweint.«
Judith ließ ihren Blick durch das Labyrinth schweifen, das am unteren Ende der Treppe begann, und ihr Gesicht zeigte neuen Respekt.
»Hast du versucht, das Buch zu finden?«
»Das war nicht nötig. Nach dem Tod meines Vaters habe ich mir selbst einen unmittelbaren Eindruck verschafft und bin so zwischen den Domänen unterwegs gewesen, als hätte Christos
- beziehungsweise Jesus Christus - damals einen Erfolg erzielt, als sei Imagica wieder eins. Mit eigenen Augen konnte ich die von Hapexamendios zurückgelassenen Spuren sehen.«
Damit erwähnte Oscar den rätselhaftesten Darsteller bei diesem mehrere Welten betreffenden Drama: Hapexamendios.
Wenn Christus ein Rekonziliant war - wurde der Unerblickte dann zu Seinem Vater? Die Macht hinter den Schleiern der Ersten Domäne... Gehörte sie Gott dem Allmächtigen? Und wenn das stimmte: Warum hatte Er gegen die Göttinnen gekämpft und sie besiegt, wie es in den Legenden hieß? Eine Frage führte zur anderen, und alle basierten auf den wenigen Worten Oscars, auf den Schilderungen seines Vaters. Kein Wunder, daß Roxborough die Bücher hierher verbannt hatte.
»Hast du eine Ahnung, wo sich die geheimnisvolle Frau befindet?« erkundigte sich Godolphin.
»Nein, eigentlich nicht.«
»Dann steht uns eine Suche bevor, die lange dauern könnte.«
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»In der Nähe des Kerkers liebten sich ein Mann und eine Frau. Den Mann habe ich als Bloxham erkannt.«
»Mieser kleiner Dreckskerl. Ich nehme an, wir sollten nach Flecken auf dem Boden Ausschau halten, wie? Nun, ich schlage vor, jeder von uns sieht sich in einem anderen Bereich des Kellers um, sonst verbringen wir den ganzen Sommer hier unten.«
Sie trennten sich und gingen in verschiedene Richtungen.
Schon nach kurzer Zeit bemerkte Judith die seltsame Akustik dieser unterirdischen Bibliothek. Manchmal hörte sie Oscars Schritte so laut und
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