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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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geglaubt.«
    »Von wie vielen Männern hast du gehört, daß sie dich lieben?«
    »Er hat es ehrlich gemeint.«
    »Oh, sie meinen es immer ehrlich - bis sie es sich anders überlegen.«
    Einige Sekunden lang sah Judith zu dem Mann hinaus, der gen Himmel blickte, und dabei spürte sie eine seltsame Ruhe.
    Genügte allein die Erinnerung an ihre Verbindung mit dem wahren Gentle, um sie von Furcht und Unruhe zu befreien?
    »Woran denkst du?« fragte Clem.
    »Sartori empfindet etwas, das Gentle nie gefühlt hat«, sagte sie. »Vielleicht ist er dazu gar nicht imstande. Bevor du jetzt Einwände erhebst... Ich weiß: Die Sache ist abscheulich. Der Autokrat hat zerstört und ganze Völker vernichtet. Er verdient Haß, kein Verständnis oder gar Liebe.«
    »Möchtest du die üblichen Klischees hören?«
    »Ich bin ganz Ohr.«
    »Mit seinen Gefühlen muß man sich abfinden. Manche Leute fahren auf Seemänner oder Typen in Gummianzügen ab.
    Andere können sich nichts Reizvolleres denken als Federboas.
    Wir sind, was wir sind; und wir fühlen, was wir fühlen. Solche Dinge erfordern weder Erklärungen noch Entschuldigungen.
    Na, wie gefällt dir das?«
    Judith wölbte beide Hände um Clems Gesicht und küßte ihn.
    »Du bist wundervoll«, sagte sie. »Wir überleben, nicht wahr?«
    »Wir überleben und werden glücklich«, meinte Clem. »Aber 1027

    ich schätze, wir sollten möglichst schnell Gentles Doppelgänger finden, bevor...« Er unterbrach sich, als Judith plötzlich erstarrte, als ein Schatten auf ihr Gesicht fiel und das frohe Lächeln fortwischte. »Stimmt was nicht?«
    »Celestine... Ich habe Sartori zu ihr geschickt, zu Roxboroughs Turm.«
    »Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz.«
    »Eine schlimme Angelegenheit.« Jude drehte sich um und eilte nach draußen.
    Gentle wandte den Blick vom Himmel ab, als er hörte, wie Judith seinen Namen rief. Er trat zu ihr an der Tür und lauschte, während sie ihn auf Sartoris Ziel hinwies.
    »Wer erwartet ihn im Turm?« fragte er.
    »Eine Frau, die mit dir sprechen wollte. Sie forderte mich auf, dir den Namen Nisi Nirwana zu nennen. Bedeutet er etwas für dich?«
    Gentle dachte darüber nach.
    »Er stammt aus irgendeiner Geschichte.«
    »Mag sein«, erwiderte Judith. »Aber die Frau existiert tatsächlich. Sie lebt. Zumindest lebte sie noch, als ich den Turm verließ.«
    3
    Nicht nur Sentimentalität hatte den Autokraten Sartori veranlaßt, auf die Wände des Palastes die Straßen von London mit solcher Liebe zum Detail zu malen. Seine Zeit in der Stadt beschränkte sich auf wenige Wochen - von der ›Geburt‹ bis zum Wechsel in die Domänen von Imagica -, aber Mutter London und Vater Themse hatten ihm dennoch eine ausgezeichnete Bildung mit auf den Weg gegeben. Er stand nun auf der Hügelkuppe von Highgate Hill und sah eine größere und schmutzigere Stadt als damals, doch es gab noch immer genug Hinweise, die wehmütige Erinnerungen in ihm weckten. In jenen Straßen hatte er den Sex kennengelernt, bei 102
    8

    den Prostituierten von Drury Lane. Mit Mord wurde er am Fluß vertraut, beobachtete dort am Sonntagmorgen, wie Wellen die Opfer der vergangenen Nacht ans Ufer trugen. Lincoln's Inn Field zeigte ihm das Gesetz, Tyburn die Gerechtigkeit. Alles Lektionen, die ihn zu dem Mann machten, der er jetzt war. Nur eines fehlte: Er hatte nie gelernt, Architekt zu sein. Vielleicht habe ich es nur vergessen, dachte er und zweifelte kaum daran, daß er auch in dieser Hinsicht einen Lehrmeister gehabt hatte.
    Immerhin war von ihm ein Palast errichtet worden, der noch in Jahrtausenden existieren würde, in Sagen und Legenden. Wo im Schmelzofen der Gene - oder in seiner Vergangenheit -
    verbarg sich der Funken jenes Genies? Vielleicht mußte er erst das zweite Yzordderrex bauen, um eine Antwort auf diese Frage zu finden. Wenn er sich in Geduld faßte und wartete, mochte ihm in den Mauern der neuen Metropole irgendwann das Gesicht des Mentors erscheinen.
    Doch bevor die Fundamente gelegt werden konnten, mußte viel abgebrochen und zerstört werden, zum Beispiel solche Banalitäten wie der Turm der Tabula Rasa. Er näherte sich ihm jetzt, pfiff vor sich hin und überlegte dabei, ob ihn die Frau hörte, die er hier besuchen sollte. Die Tür stand offen, aber er bezweifelte, ob es irgendein Dieb wagen würde, dieses Gebäude zu betreten: In der Luft vor dem Zugang prickelte magische Energie und erinnerte den ehemaligen Autokraten an seinen geliebten Zapfen.
    Er pfiff noch immer, als er das

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