Imagica
vergangene Ereignisse zur Struktur von Wänden und Boden gehörten. In diesem Fall handelte es sich um vage Bilder, die ihn selbst zeigten, bei Diskussionen am großen Eichentisch in der Mitte des Zimmers. Er ließ sich aber nicht von Nostalgie aufhalten und durchschritt den Raum mit der Hast eines Mannes, der sich über Fans und Bewunderer 103
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ärgert und sie mit erhobenen Armen abwehrt. Nach wenigen Sekunden gelangte er zur Treppe und kletterte in den Keller hinab. Judith hatte ihm das Labyrinth mit den vielen Büchern (in ein Leder gebunden, das in einigen Fällen aus menschlicher Haut gewonnen worden war) geschildert, doch der Anblick überraschte ihn trotzdem. Eine so gewaltige Weisheit, in der Finsternis verbannt und vergessen. Kein Wunder, daß das imagische Leben in der Fünften während der vergangenen zweihundert Jahre so anämisch gewesen war - alle kraftspendenden metaphorischen Säfte lagerten hier. Gentle mußte sich zu der Erkenntnis zwingen, daß er keine Zeit mit Schmökern vergeuden durfte. Der Grund für seinen Aufenthalt an diesem Ort hieß Celestine. Ausgerechnet den Namen Nisi Nirwana hatte sie benutzt, damit er zu ihr kam. Den Grund dafür kannte er nicht. Er entsann sich undeutlich an die Bezeichnung - sie schien mit irgendeiner Geschichte in Zusammenhang zu stehen, aber er wußte nicht, wo er sie zum erstenmal gehört hatte. Vielleicht konnte ihm die Befreite Auskunft geben.
Gentle fühlte und beobachtete eine sonderbare Unruhe, die selbst den Staub erfaßte: Er blieb nicht am Boden liegen, sondern stieg immer wieder auf, um hin und her wogende Wolken zu bilden, die der Maestro mit jedem Schritt teilte.
Nicht daß sich Gentle verirrte, doch der Weg vom Ende der Treppe bis hin zum Kerker erwies sich als recht lang, und bevor er das Ziel erreichte - erklang ein Schrei. Gentle ging schneller, brachte eine Ecke nach der anderen hinter sich und wußte, daß ihm sein anderes Selbst zuvorgekommen war. Nach dem ersten Schrei ertönten keine weiteren, doch als er vor sich die Kammer sah - sie wirkte wie eine aus dem Fels gemeißelte Höhle, wie das Heim eines Orakels -, hörte er ein anderes Geräusch: Ziegelsteine, die mit dumpfem Knirschen aneinander rieben. Hier und dort rieselte Mörtelstaub von der Decke herab; gelegentlich zitterte der Boden. Der Rekonziliant 1035
stieg über Trümmer hinweg - in diesem Bereich des Kellers schien eine regelrechte Schlacht getobt zu haben - und näherte sich dem einladenden Loch in der Mauer. Im Zugang bemerkte er ruckartige Bewegung und verharrte abrupt.
»Bruder?« fragte er und hielt in der Düsternis nach Sartori Ausschau. »Was machst du da?«
Dann sah er den ehemaligen Autokraten: Er ging auf eine Frau zu, die er in die Enge getrieben hatte. Sie war fast nackt, aber alles andere als wehrlos. Bänder ragten aus Schultern und Rücken, wie die Fetzen einer Brautschleppe, aber sie bestanden aus lebendigem Fleisch und schienen weitaus fester und widerstandsfähiger zu sein, als ihr zartes Erscheinungsbild vermuten ließ. Einige klebten an der Decke über Celestine, doch die meisten neigten sich Sartori entgegen und umgaben seinen Kopf wie eine Kapuze, die ihn zu ersticken drohte. Er zerrte daran und versuchte, die Finger zwischen einige Stränge zu bohren, um besser daran ziehen zu können. Flüssigkeit tropfte aus aufgerissenen Stellen, und Hautfetzen hingen an Sartoris Fäusten. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis er seine volle Bewegungsfreiheit zurückgewann, und dann würde er gewiß nicht zögern, die Frau anzugreifen, sie zu verletzen oder gar zu töten.
Gentle verzichtete darauf, seinen Bruder ein zweites Mal zu rufen - er konnte ihn ohnehin nicht hören. Statt dessen eilte er in die Kammer, packte Sartori von hinten, riß die Hände fort von den Tentakeln und preßte ihm die Arme an die Seite.
Celestines Blick glitt zwischen den beiden Männern vor ihr hin und her. Vielleicht erlitt sie einen Schock; vielleicht ließen nun ihre Kräfte nach. Die miteinander verknüpften Bänder lockerten und lösten sich, wichen fort von Sartoris Hals, enthüllten das Gesicht des anderen Selbst und bestätigten der Frau das Unwahrscheinliche. Sie zog die Pseudopodien ganz zurück und sammelte sie in ihrem Schoß.
Sartori drehte den Kopf, um zu sehen, wer hinter ihm stand 103
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und ihn festhielt. Als er Gentle erkannte, gab er sofort seine Befreiungsbemühungen auf und stand ganz ruhig da.
»Warum muß ich immer wieder feststellen, daß du Unheil
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