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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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brauchen also nur die Mauern einzureißen«, sagte Montag und rieb sich voller Vorfreude die Hände. »Zeig sie mir - ich zerstöre sie. So einfach ist das.«
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    Gentle hatte einen speziellen Überlebenswillen des Kindes er-wähnt, und Judith glaubte ihm. Aber was bedeutete das, abgesehen davon, daß sie durch einen Abtreibungsversuch riskierte, dem Zorn des ungeborenen Sohnes zum Opfer zu fallen? Würde es besonders schnell wachsen? Mußte sie damit rechnen, daß sich ihr Bauch schon am Abend weit vorwölbte, daß ihre Fruchtblase morgen früh platzte? Jude lag jetzt im Bett, und die Hitze des Tages schien das Gewicht ihrer Glieder zu verdoppeln. Sie hoffte, daß die Geschichten über glückliche, strahlende Mütter der Wahrheit entsprachen, daß ihr Leib Palliative produzierte, um alle Traumata angesichts des in ihr reifenden Lebens zu lindern. Als es an der Tür klingelte, achtete Judith zunächst nicht darauf. Doch der Besucher erwies sich als bemerkenswert hartnäckig, klingelte noch einige Male, trat unters Fenster und rief dort ihren Namen. Zwei verschiedene Stimmen erklangen: Eine rief »Judith«, und die andere »Jude«. Sie setzte sich auf, und für einige Sekunden schien sich ihre Anatomie zu verschieben. Das Herz klopfte im Kopf, und die Gedanken formten sich irgendwo im Bauch, formulierten dort die Absicht, das Schlafzimmer zu verlassen 102
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    und nach unten zur Tür zu gehen. Die Stimmen verklangen allmählich, als Judith die Treppe hinter sich brachte, und sie glaubte, draußen niemanden anzutreffen. Diese Annahme erwies sich als Irrtum. Ein Junge wartete vor der Tür, die Kleidung voller Farbflecken, und als er sie sah, wandte er sich zwei Männern zu, die auf der anderen Straßenseite standen und zu den Fenstern der Wohnung emporspähten.
    »Sie ist hier!« rief der Jugendliche. »Sie ist hier, Boß!«
    Die Männer schritten über die Straße, und als sie sich näherten, wurde aus dem Herzklopfen in Judiths Kopf ein rasendes Hämmern. Sie streckte die Hand aus, um sich abzustützen, und begegnete dem Blick des lächelnden Mannes neben Clem. Das war nicht Gentle - zumindest nicht der Ei-Dieb, der sie vor einigen Stunden mit makellosem Gesicht verlassen hatte. Diese Wangen zeigten einen mehrere Tage alten Bart, und Schorf klebte an der Stirn. Judith wich zurück und wollte die Tür schließen, doch sie tastete vergeblich danach.
    »Bleib von mir fern«, sagte sie.
    Er sah die Panik in ihren Zügen und blieb etwa anderthalb Meter vor der Schwelle stehen. Der Junge drehte sich zu ihm um, doch er winkte ihn fort, so daß ihm niemand und nichts den Blick auf Judith verwehrte.
    »Ich weiß, daß ich schlimm aussehe«, sagte er. »Aber ich bin's trotzdem, Jude.«
    Sie trat zwei Schritte von dem Gleißen zurück, in dem er stand. Wie sehr ihn das Licht mochte! Ganz im Gegensatz zu dem anderen, der das Helle mied, immer den Schatten vorzog.
    Ihr ganzes Selbst erbebte, und das Zittern erfaßte auch den Körper, wurde immer stärker, als erlitte sie einen regelrechten Anfall. Erneut streckte sie die Hand aus und griff nach dem Treppengeländer, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
    »Ausgeschlossen«, brachte sie hervor.
    Diesmal schwieg der Fremde. Sein Komplize bei diesem 1023

    Täuschungsversuch - ausgerechnet Clem! - sagte:
    »Wir müssen mit dir reden, Judy. Darf ich hereinkommen?«
    »Nur du«, erwiderte sie. »Die beiden anderen nicht.«
    »Nur ich?«
    Er kam langsam näher und hob dabei die Hände als Zeichen seiner guten Absichten.
    »Was ist hier passiert?« fragte Clem.
    »Jener Mann dort...«, begann sie. »Er kann unmöglich Gentle sein. Der wahre Gentle ist während der letzten beiden Tage bei mir gewesen. Und auch... des Nachts.«
    Der Fremde hörte sie. Judith sah sein Gesicht über Clems Schulter hinweg und erkannte dort schockierte Verblüffung. Je mehr sie versuchte, Clem die jüngsten Ereignisse zu erklären, desto mehr verlor sie den Glauben an ihre eigenen Worte.
    Diesen Gentle, der nun draußen wartete, hatte sie vor dem Atelier zurückgelassen. Ganz deutlich sah sie sein Erinnerungsbild: Er blinzelte in der Sonne, so wie jetzt. Und wenn es sich bei diesem Mann um den echten Gentle handelte, dann mußte der Ei-Dieb und Schwängerer jemand anders sein...
    Sie beobachtete, wie Gentles Lippen den Namen des Doppelgängers formten:
    »Sartori.«
    Judith hörte den Namen und akzeptierte die Wahrheit. Sie wußte, daß sich der Schlächter von Yzordderrex nicht nur einen Platz in ihrem

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