Imagica
ich nicht zum erstenmal«, sagte sie. »Wenn ein Mann sagt, es gäbe keinen Grund, sich zu fürchten..., dann lügt er. Das gilt auch für dich, Sartori.«
»Ich komme nicht näher, wenn dich meine Gegenwart stört«, bot er an.
Es war kein Respekt vor dem Unbehagen der Frau, der ihn zu dieser Fügsamkeit veranlaßte, sondern eine Erinnerung: Auch seiner Gemahlin Quaisoir waren solche Tentakel gewachsen nach ihrem Aufenthalt bei den Frauen in der Banu-Bastion. Sie deuteten auf Fähigkeiten des anderen Geschlechts hin, die er noch immer nicht ganz verstand - uralte Eigenschaften, die Hapexamendios aus den
zusammengeführten Domänen verbannt hatte. Vielleicht waren sie während der vergangenen zwei Jahrhunderte in der Fünften Domäne neu gewachsen und erblüht? Der frühere Autokrat begegnete ihnen mit Argwohn und beschloß, vorsichtig zu sein.
»Erlaubst du mir, dich etwas zu fragen?« begann er.
»Nur zu.«
»Woher kennst du mich?«
»Sag mir zuerst, wo du die ganze Zeit über gewesen bist.«
Oh, wie sehr er sich versucht fühlte, die Wahrheit zu präsentieren, seine Leistungen zu nennen, um Celestine damit zu beeindrucken. Aber er kam als jemand anderer zu ihr; wie bei Judith mußte er die Maske seines anderen Selbst mit taktvoller Behutsamkeit abnehmen.
»Ich war auf der Wanderschaft«, sagte er. In gewisser Weise stimmte das sogar.
»Wo?«
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»In der Zweiten Domäne. Und gelegentlich auch in der Dritten.«
»Hast du jemals Yzordderrex besucht?«
»Manchmal.«
»Und die Wüste jenseits der Stadt?«
»Sie ist mir vertraut. Warum fragst du?«
»Ich war einmal dort. Vor deiner Geburt.«
»Ich bin älter, als ich aussehe«, sagte Sartori. »Der äußere Schein trügt...«
»Ich weiß, wie alt du bist, Sartori«, entgegnete Celestine.
»Bis auf den Tag genau.«
Ihre Gewißheit verstärkte die Unruhe, die er angesichts der tentakelartigen Auswüchse empfand. Konnte diese Frau seine Gedanken lesen? Wenn das der Fall war, wenn sie um seine wahre Identität wußte... Warum begegnete sie ihm dann nicht mit Ehrfurcht? Statt dessen verhielt sie sich wie eine der vielen Eroberungen des Maestros und schien ihm nur vorwerfen zu wollen, sie vergessen zu haben.
Doch Celestine erhob eine ganz andere Anklage.
»Du hast in deinem Leben viel Unheil angerichtet, nicht wahr?« fragte sie.
»Nicht mehr als andere Leute«, wandte er ein. »Nun, ich habe mich zu einigen Exzessen hinreißen lassen - das gebe ich zu. Aber wer kann das Gegenteil von sich behaupten?«
»Einige Exzesse?« wiederholte Celestine. »Ich glaube, es steckt weitaus mehr dahinter. Das Böse wohnt in dir, Sartori.
Ich rieche es in deinem Schweiß. Auf die gleiche Weise roch ich Koitus in der Frau.«
Als sie Judith erwähnte - wer sonst konnte mit jener veneri-schen Frau gemeint sein? -, erinnerte er sich an seine Prophezeiung vor zwei Nächten. Sie würden Dunkelheit ineinander finden, hatte er ihr gesagt, und das sei durch und durch menschlich. Dieses Argument war überzeugend gewesen, und vielleicht führte es auch jetzt zum gewünschten 1033
Ergebnis.
»Du siehst nur die menschlichen Aspekte meines Wesens«, behauptete er.
Celestine wirkte skeptisch.
»O nein«, sagte sie. » Ich bin das Menschliche in dir.«
Er wollte über diese absurde Bemerkung lachen, doch ein durchdringender Blick brachte ihn sofort zum Schweigen.
»Wer bist du?« fragte er leise.
»Weißt du es noch immer nicht?« erwiderte Celestine. »Ich bin deine Mutter, Sohn.«
Sie betraten das kühle Foyer des Turms; Gentle ging voraus.
Völlige Stille herrschte in dem Gebäude. Nirgends erklang ein Geräusch, weder unten noch oben.
»Wo ist Celestine?« wandte sich Gentle an Judith. Sie führte ihn in den Versammlungsraum der Tabula Rasa, und dort sagte er zu seinen Begleitern: »Diese Sache muß ich allein erledigen.
Sie betrifft zwei Brüder.«
»Ich habe keine Angst«, ließ sich Montag vernehmen.
»Du vielleicht nicht, aber ich«, erwiderte Gentle. Er lächelte.
»Und ich möchte nicht, daß du siehst, wie ich mir in die Hose mache. Bleibt hier. Ich bin bald zurück.«
»Wenn du nicht bald zurück bist, folgen wir dir in den Keller«, sagte Clem.
Mit diesem Versprechen, das Kraft gewährte und zusätzlichen Mut verlieh, trat Gentle durch die Tür und machte sich auf den Weg nach unten. Im Foyer hatte er keine Erinnerungen gespürt, doch jetzt regten sich Reminiszenzen in ihm. Sie gewannen keine scheinbare Substanz, so wie in der Gamut Street, wo
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