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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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bunten Bändern geschmückte Puppe auf einem winzigen Floß. Judith griff nach einem der Boote und entfaltete das Papier. Die Schriftzeichen darauf waren verschmiert, konnten jedoch noch immer entziffert werden.
    Tishalulle ... So begann der Brief. Ich heiße Cimarra Sakeo und schicke Dir dieses Gebet für meine Eltern und auch für meinen Bruder Boem, der leider tot ist. Ich habe Dich in Träumen gesehen, Tishalulle, und daher weiß ich, daß Du gut bist. Du wohnst in meinem Herzen. Bitte sei auch im Herzen meiner Mutter und meines Vaters. Gib ihnen Deinen Trost.
    Judith reichte den Brief Hoi-Polloi, und ihr Blick glitt über die beiden sich vereinigenden Flüsse hinweg.
    »Wer ist Tishalulle?« fragte sie.
    Hebberts Tochter antwortete nicht. Nach einigen Sekunden drehte Jude den Kopf und stellte fest, daß die junge Frau über den Berghang blickte.
    »Wer ist Tishalulle?« wiederholte die Frau aus der Fünften.
    »Eine Göttin«, erwiderte Hoi-Polloi. Sie senkte die Stimme, obgleich niemand in der Nähe weilte, der sie hören konnte.
    Gleichzeitig ließ sie den Brief fallen. Jude bückte sich und hob ihn auf.
    »Mit den Gebeten anderer Personen sollte man vorsichtig umgehen«, sagte sie, faltete wieder ein Schiff aus dem Papier und sorgte dafür, daß es die Reise fortsetzen konnte.
    »Sie wird es nie bekommen«, meinte Hoi-Polloi. »Weil sie überhaupt nicht existiert.«
    »Trotzdem fürchtest du dich davor, ihren Namen laut zu sagen?«
    »Wir dürfen nicht die Namen irgendwelcher Göttinnen aussprechen. Paps hat uns das gelehrt. Es ist verboten.«
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    »Also gibt es noch andere?«
    »Ja. Die Schwestern vom Delta. Und eine, die man Jokalaylau nennt. Angeblich lebt sie in den Bergen.«
    »Und Tishalulle?«
    »Ich glaube, ihr Reich ist die Wiege von Chzercemit. Glaube ich wenigstens. Ganz sicher bin ich nicht.«
    »Die Wiege?«
    »Ein See in der Dritten Domäne.«
    Diesmal spürte Judith, wie ihre Lippen sich zu einem Lächeln verzogen.
    »Flüsse, Gletscher und Seen«, sagte sie, ging neben dem strömenden Fluß in die Hocke und tauchte die Finger hinein.
    »Sie sind im Wasser gekommen, Hoi-Polloi.«
    »Wer?«
    Die Flüssigkeit war kühl, strich wie spielerisch über Judiths Finger und sprang an der Hand hoch.
    »Stell dich nicht dumm«, entgegnete sie. »Die Göttinnen. Sie sind hier.«
    »Unmöglich. Selbst wenn sie noch immer existieren würden
    - und Paps hat mir gesagt, daß sie seit langer Zeit tot sind -, warum sollten sie ausgerechnet hierher kommen?«
    Jude schöpfte eine Handvoll Wasser und trank einen Schluck. Es schmeckte süß.
    »Vielleicht hat sie jemand gerufen.«
    Sie sah Hoi-Polloi an: Das Gesicht der jungen Frau zeigte Abscheu; offenbar ekelte es sie, daß Judith etwas von dem Wasser geschluckt hatte. »Jemand weiter oben?« fragte sie.
    »Nun, man braucht Kraft, um einen Berg zu erklimmen. Das gilt insbesondere für Wasser. Es ist bestimmt nicht nach oben unterwegs, weil es dort die Aussicht genießen möchte. Ich bin sicher, es folgt einem Ruf. Und wenn wir in die gleiche Richtung gehen, so finden wir früher oder später heraus, wer oder was...«
    »Ich halte das für keine gute Idee«, sagte Hoi-Polloi hastig.
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    »Nicht nur das Wasser wird gerufen, sondern auch wir«, betonte Judith. »Fühlst du es nicht?«
    »Nein«, behauptete Hebberts Tochter. »Ich könnte jetzt umkehren und nach Hause gehen.«
    »Möchtest du das?«
    Hoi-Polloi blickte zu dem Fluß, der nur einen Meter vor ihr plätscherte. Wie es der Zufall wollte, trug das Wasser gerade eine weniger hübsche Fracht vorbei: mehrere Hühnerköpfe und den teilweise verbrannten Kadaver eines kleinen Hundes.
    »Du hast davon getrunken«, sagte die junge Frau.
    »Es schmeckte gut«, erwiderte Judith. Doch sie wandte rasch den Blick von dem Hund ab.
    Der Anblick bestätigte Hoi-Pollois Unbehagen.
    »Ich glaube, ich kehre wirklich heim«, sagte sie. »Ich bin nicht so ohne weiteres imstande, Göttinnen gegenüberzutreten -
    falls sich welche dort oben aufhalten. Es lasten zu viele Sünden auf mir.«
    »Unsinn!« entfuhr es Jude. »Hier geht es nicht um Sünden und Verzeihen. Ein solcher Humbug bleibt Männern überlassen. Dies ist...« Sie unterbrach sich und suchte nach geeigneten Worten. »Dies ist viel weiser.«
    »Woher willst du das wissen?« fragte Hoi-Polloi. »Es gibt niemanden, der diese Dinge voll und ganz versteht. Sie blieben selbst meinem Vater ein Rätsel. Er wies mich immer wieder darauf hin, ihm sei die Natur des

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