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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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»Ich bin mit den Wunden erwacht und habe sie mir nicht selbst zugefügt.«
    Gentles Gesicht zeigte Skepsis.
    »Das hier wollte ich nicht«, sagte Athanasius mit Nachdruck.
    »Nicht die Stigmata und nicht die Träume.«
    »Warum haben Sie dann den Baum beobachtet?«
    »Weil ich hungrig bin«, antwortete der Priester. »Und weil ich mich fragte, ob meine Kraft genügt, um emporzuklettern.«
    Gentle blickte in Richtung Wipfel, und zwischen den Blättern der höheren Äste entdeckte er Früchte, die aussahen wie gestreifte Mandarinen.
    »Ich kann Ihnen leider nicht helfen«, sagte er. »Ich habe nicht genug Substanz, um das Obst zu pflücken. Wie wär's, wenn Sie es herunterschütteln?«
    »Das habe ich versucht. Nun, was spielt mein Magen schon für eine Rolle? Wir müssen uns um wichtigere Dinge kümmern.«
    »Zum Beispiel sollten wir Ihnen Verbandsmaterial für die Hände besorgen.« Das Mißverständnis verdrängte den Argwohn aus Gentle, zumindest für eine Weile. »Ich möchte vermeiden, daß Sie verbluten, bevor wir mit der Rekonziliation beginnen.«
    »Oh, ich glaube, da besteht keine Gefahr«, meinte Athanasius.
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    »Mal bluten die Stigmata, mal nicht. Ich habe mich schon daran gewöhnt.«
    »Nun, dann suchen wir nicht nach Verbänden, sondern nach Nahrungsmitteln für Sie. Haben Sie sich in einem der Häuser umgesehen?«
    »Ich bin kein Dieb.«
    »Ich bezweifle, ob jemand zurückkehrt«, sagte Gentle. »Und Sie brauchen etwas zu essen. Sie dürfen nicht zu schwach werden.«
    Priester und körperlose Seele begaben sich zum nächsten Haus, und dort hörte Athanasius erneut einige ermutigende Worte von Gentle, den die feste Moral des Mannes erstaunte.
    Nach einer Weile gab er nach und ließ sich dazu bewegen, die Tür aufzubrechen. Das Haus war entweder geplündert oder in aller Eile aufgegeben worden, doch in der Küche lagerten noch immer zahlreiche Vorräte. Dort machte sich Athanasius mit blutenden Händen ein Sandwich - rote Flecken bildeten sich auf dem Brot.
    »Ich bin unglaublich hungrig«, sagte er. »Sie haben sicher gefastet, wie?«
    »Nein. Sollte ich das?«
    »Jedem das Seine«, erwiderte der Priester. »Die einzelnen Personen beschreiten unterschiedliche Wege zum Himmel. Ich kannte einmal jemanden, der nur beten konnte, wenn sein Geschlechtsteil in einem Zarzi-Nest ruhte.«
    Gentle schnitt eine Grimasse. »Das ist nicht etwa Religion, sondern Masochismus.«
    »Glauben Sie vielleicht, Masochismus sei keine Religion?«
    hielt ihm Athanasius entgegen. »Sie überraschen mich.«
    Auch Gentle war überrascht: Es erstaunte ihn, so geistreiche Bemerkungen von dem Priester zu hören. Während sie miteinander sprachen, wurde ihm Athanasius immer sympathischer. Vielleicht konnte tatsächlich eine stabile Grundlage für gute Zusammenarbeit geschaffen werden. Doch 1127

    wahrer Frieden erforderte eine Diskussion darüber, was im Bereich der Rasur geschehen war.
    »Ich fühle mich Ihnen gegenüber zu einer Erklärung verpflichtet«, sagte Gentle.
    »Ach?«
    »Für die Ereignisse bei den Zelten. Sie haben dort viele Freunde verloren, durch meine Schuld.«
    »Ich bin sicher, die Tragödie ließ sich nicht verhindern«, erwiderte Athanasius. »Niemand von uns wußte, welche Kräfte am Werk waren.«
    »Ich bin nicht einmal sicher, ob ich jetzt darüber Bescheid weiß.«
    Der Priester verzog das Gesicht. »Der Mystif gab sich große Mühe, um zurückzukehren und Ihnen zuzusetzen.«
    »Er setzte mir nicht zu.«
    »Was auch immer: Für seinen Transfer brauchte er eine Menge Willenskraft. Pie'oh'pah muß die Konsequenzen gekannt haben, die Folgen nicht nur für ihn selbst, sondern auch für die versammelte Gemeinschaft der Mangler.«
    »Er verabscheute es, Leid zu verursachen.«
    »Aber er hat viel Leidgebracht, woraus folgt: Was kann so wichtig für ihn gewesen sein, daß er durch seine Rückkehr eine Katastrophe auslöste?«
    »Er wollte sicherstellen, daß ich meine Aufgabe verstehe.«
    »Das allein ist nicht Grund genug«, sagte Athanasius.
    »Andere Gründe kenne ich nicht.« Diese Worte kamen zumindest einer halben Lüge gleich: Gentle wies nicht auf den Teil von Pies Botschaft hin, der Sartori betraf. Athanasius konnte solche Rätsel ohnehin nicht lösen - warum ihn damit belasten?
    »In der Stadt geschieht Geheimnisvolles«, sagte der Priester.
    »Haben Sie das Wasser gesehen?«
    »Ja.«
    »Beunruhigt es Sie nicht? Mich schon. Fremde Mächte 112
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    entfalten sich hier, und vielleicht sollten wir uns an

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