Imagica
sie wenden, um einen Rat zu erbitten.«
»Fremde Mächte? Wen meinen Sie damit? Andere Maestros?«
»Nein, die Heilige Mutter. Vielleicht ist sie jetzt in Yzordderrex.«
»Sie sind nicht sicher?«
»Jemand oder etwas bewegt das Wasser.«
»Wenn die Heilige Mutter tatsächlich hier wäre... Sie müßten es doch wissen, oder? Immerhin gehörten Sie zu ihren Hohepriestern.«
»Nein, ein solches Amt habe ich nie bekleidet. Wir beteten an der Rasur, weil dort ein Verbrechen verübt wurde: Man entführte eine Frau und verschleppte sie in die Erste Domäne.«
Floccus Dado hatte diese Geschichte während der Fahrt durch die Wüste erzählt, aber Gentle war in Gedanken mit so vielen Dingen beschäftigt gewesen, daß er sich erst jetzt wieder daran erinnerte. Die Geschichte seiner Mutter...
»Die Frau hieß Celestine, nicht wahr?«
»Woher wissen Sie das?«
»Ich bin ihr begegnet. Sie lebt noch, in der Fünften.«
Athanasius kniff die Augen zusammen, um auf diese Weise die Lüge in Gentles Behauptung zu erkennen. Aber nach einigen Sekunden lächelte er.
»Sie hatten also mit heiligen Frauen zu tun«, sagte er.
»Vielleicht gibt es noch Hoffnung für Sie.«
»Sie können ihr gegenübertreten, wenn dies alles vorbei ist.«
»Eine angenehme Vorstellung.«
»Aber vorher müssen wir einen bestimmten Weg beschreiten und dürfen uns nicht ablenken lassen«, betonte Gentle.
»Verstehen Sie? Wir können nach der Heiligen Mutter Ausschau halten, wenn die Rekonziliation vollendet ist - vorher nicht.«
»Ich fühle mich so verdammt nackt«, sagte Athanasius.
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»Wir alle teilen Ihre Empfindungen. Es ist unvermeidlich.
Aber es gibt noch etwas anderes Unvermeidliches.«
»Und das wäre?«
»Die Einheit von Dingen«, erklärte Gentle. »Die Einheit von reparierten und geheilten Dingen. Sie hat mehr Gewißheit als Sünde, Tod und Finsternis.«
»Wohl gesprochen«, lobte Athanasius. »Wer hat Sie diese Weisheit gelehrt?«
»Das sollten Sie eigentlich wissen. Sie haben mich mit ihm verheiratet.«
»Ah...« Der Priester lächelte. »Darf ich Sie daran erinnern, warum ein Mann heiratet? Um ein Ganzes zu werden - durch die Verbindung mit einer Frau.«
»Nicht dieser Mann«, sagte Gentle.
»War der Mystif keine Frau für Sie?«
»Manchmal...«
»Und wenn er sich Ihnen nicht als Frau darbot?«
»Dann hatte er weder das männliche noch das weibliche Geschlecht, bestand einzig und allein aus Glück und Wonne.«
Diese Bemerkung schien Athanasius profundes Unbehagen zu bereiten.
»Klingt profan«, kommentierte er.
Noch nie zuvor hatte Gentle auf diese Weise an die Beziehung zwischen sich selbst und dem Mystif gedacht, und er lehnte es ab, ausgerechnet jetzt dem Zweifel Platz in seinem Fühlen einzuräumen. Pie'oh'pah war sein Lehrer gewesen, sein Freund und Geliebter, von Anfang an ein selbstloser Helfer bei dem Versuch, die Domänen zusammenzuführen. Sein Vater hätte eine solche Verbindüng sicher nicht erlaubt, wenn sie weniger als heilig gewesen wäre.
»Ich glaube, wir sollten dieses Thema ruhen lassen«, sagte er zu Athanasius. »Andernfalls besteht die Gefahr, daß wir wieder streiten, und ich möchte keine neue Kontroverse.«
»Ich möchte sie ebensowenig«, erwiderte der Priester.
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»Sprechen wir nicht mehr darüber. Welchen Ort wollen Sie von hier aus aufsuchen?«
»Die Rasur.«
»Und wer repräsentiert die Synode an der Grenze zur Ersten Domäne?«
»Chicka Jackeen.«
»Ah! Ihn haben Sie also gewählt.«
»Ist er Ihnen bekannt?«
»Nicht sehr gut. Er erreichte die Rasur lange vor mir.
Niemand weiß, seit wann er sich dort schon aufhält. Ein seltsamer Typ.«
»Wenn seltsame Typen nicht für die Rekonziliation in Frage kämen, müßten wir uns nach einem neuen Job umsehen.«
»Läßt sich kaum leugnen.«
Gentle wünschte Athanasius alles Gute, und sie verabschiedeten sich höflich, wenn nicht sogar freundlich voneinander. Anschließend rückte der Rekonziliant Yzordderrex aus dem Fokus seiner Gedanken und besann sich statt dessen auf die Wüste jenseits der Stadt. Sofort verschwanden die Konturen der Küche und wichen der Barriere zwischen Erster und Zweiter Domäne. Die Rasur erstreckte sich vor Gentle. Er hoffte, dort das letzte Mitglied seiner Synode zu finden.
4
Weitere Flüsse gesellten sich den ersten hinzu, und bald entstand ein Strom, der zu breit war, um über ihn hinwegzuspringen, und der zu rasch floß, um ihn zu durchwaten. Es gab keine Uferböschungen, die das Wasser
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