Imagica
spekulierte Scopique. »Würde mich kaum wundern - es sind schon seltsamere Dinge geschehen.«
»Wenn's auf diese Weise weitergeht, schnappe ich ebenfalls über«, ächzte Gentle. »Athanasius! Es kommt einer Katastrophe gleich!«
Wütend ließ er Scopique in der Hütte zurück, fluchte hingebungsvoll und spürte, wie sich der ursprüngliche Optimismus verflüchtigte. In seinem mentalen Kosmos herrschte Aufruhr, und in einem solchen Zustand wollte er nicht vor Athanasius erscheinen. Gentle wählte eine Stelle am Fastenweg, um die Gedanken zu ordnen. Die Situation war alles andere als ermutigend. Tick Raw wartete als gesuchter Verbrecher auf dem Berg Lipper Bayak und lief nach wie vor Gefahr, verhaftet zu werden. Scopique befürchtete einen Fehlschlag der Zusammenführung, weil der Zapfen fehlte. Und nun hatte er gerade erfahren, daß auch Athanasius zu den Mitgliedern der Synode zählte, jemand, bei dem alle Schrauben locker saßen.
»O Gott, Pie...«, murmelte Gentle. »Ich brauche dich jetzt.«
Der Wind seufzte und stöhnte über den Fastenweg, wehte in Richtung Grenze zwischen Dritter und Zweiter Domäne, schien ihn aufzufordern, das Grübeln einzustellen und sich nach Yzordderrex zu begeben. Doch eine Zeitlang ignorierte Gentle diese wortlose Stimme und dachte über die ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten nach. Erstens: Er konnte den Rekonziliationsversuch jetzt einstellen, bevor die einzelnen Risikofaktoren zusammenwuchsen und zu einer neuen Katastrophe führten. Zweitens: Sollte er versuchen, Athanasius durch einen anderen Maestro zu ersetzen? Die dritte 111
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Möglichkeit bestand darin, Scopiques Urteil zu vertrauen, in Yzordderrex mit dem Priester zu reden und damit die Basis für eine gute Kooperation zu schaffen. Gentle weigerte sich, die erste Option auch nur in Erwägung zu ziehen. Was Nummer zwei betraf: Angesichts der knappen Zeit hielt er es praktisch für ausgeschlossen, einen Ersatz zu finden. Damit blieb nur der dritte Punkt: Ob es ihm gefiel oder nicht - er mußte Athanasius'
Mitgliedschaft in der Synode akzeptieren.
Nach der Entscheidung gab er dem Drängen des Windes nach und dachte sich über die lange, gerade Straße. Durch die Lücke zwischen den Domänen sauste er übers Delta hinweg zur Stadt.
2
»Hoi-Polloi?«
›Sünder‹ Hebberts Tochter hatte den Knüppel beiseite gelegt und kniete neben Jude. Tränen schimmerten in ihren schielenden Augen.
»Es tut mir leid, so schrecklich leid«, sagte sie immer wieder. »Ich wußte nicht, wer im Kreis erschien. Ich habe dich nicht erkannt.«
Judith setzte sich auf. Zwischen ihren Schläfen läuteten einige Glocken, aber offenbar hatte sie keine Verletzungen erlitten.
»Was machst du hier?« fragte sie und ging ebenfalls zum Du über. »Du wolltest doch mit deinem Vater fort, oder?«
»Ja«, bestätigte die junge Frau und kämpfte gegen die Tränen an. »Aber auf dem Damm habe ich ihn aus den Augen verloren. In der einen Sekunde stand er neben mir, und in der nächsten war er verschwunden. Stundenlang bin ich dortgeblieben und habe nach ihm Ausschau gehalten.
Schließlich dachte ich, daß er vielleicht hierher zurückkehren würde, und deshalb bin ich hier...«
»Aber dein Vater blieb verschwunden.«
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»Ja.« Hoi-Polloi schluchzte wieder, und Judith schlang die Arme um sie, um ihr Trost zu spenden.
»Ich bin sicher, daß er noch lebt«, sagte Hebberts Tochter.
»Er ist nur vernünftig und versteckt sich irgendwo.« Sie warf einen nervösen Blick zur Kellerdecke. »Wenn er in einigen Tagen noch immer nicht zurück ist..., dann begleite ich dich zur Fünften. Und mein Vater kann uns später folgen.«
»Glaub mir: Die Fünfte Domäne bietet nicht mehr Sicherheit als diese Welt.«
»Was ist nur los?« fragte Hoi-Polloi.
»Alles verändert sich«, erwiderte Judith. »Und wir müssen mit den Veränderungen fertig werden, so seltsam sie auch sein mögen.«
»Ich möchte, daß die Dinge so bleiben, wie sie sind. Paps, die Geschäfte, alles an seinem Platz...«
»Tulpen auf dem Tisch im Eßzimmer?«
»Ja.«
»Ich fürchte, es dauert eine Weile, bis wieder alles so sein wird, wie du es dir wünschst«, sagte Jude. »Vielleicht sind die Veränderungen dauerhaft, für immer.«
Sie stand auf.
»Wohin gehst du?« fragte Hoi-Polloi sofort. »Du darfst nicht fort.«
»Ich muß. Ich bin aus einem ganz bestimmten Grund hier.
Du kannst mich begleiten, wenn du möchtest, aber du bist dabei für dich selbst
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