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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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verantwortlich.«
    Hoi-Polloi schniefte. »Ich verstehe.«
    »Kommst du mit?«
    »Ich möchte nicht allein sein«, entgegnete die junge Frau.
    »Ja, ich komme mit.«
    Jude war auf die Szenen der Verheerung jenseits der Haustür vorbereitet, nicht jedoch auf das Entzücken, das in ihr keimte und sproß. Irgendwo in der Nähe erklang leises Jammern, und zweifellos hatten Kummer und Trauer praktisch überall in der 111
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    Stadt Einzug gehalten, aber die warme Mittagsluft trug eine andere Botschaft mit sich.
    »Warum lächelst du?« fragte Hoi-Polloi.
    Judith bemerkte ihr Schmunzeln erst jetzt.
    »Vielleicht deshalb, weil ein neuer Tag begonnen hat«, sagte sie und dachte: Es könnte auch der letzte sein. Vielleicht ging das besondere Schimmern in der Luft darauf zurück: Vielleicht handelte es sich gewissermaßen um eine letzte Remission vor dem unabwendbaren Ende.
    Natürlich behielt Jude diese Gedanken für sich - Hoi-Polloi war auch so schon verängstigt genug. Sie wahrte einen Abstand von ein oder zwei Schritten, als sie dem Verlauf der Straße folgten und über den weiten Hang nach oben wanderten. Die ganze Zeit über murmelte sie vor sich hin, und gelegentlich kam ein Schluckauf hinzu. Ihre Verzweiflung wäre sicher noch größer gewesen, wenn sie Judes Verwirrung gespürt hätte. Die Frau aus der Fünften befand sich nun in Yzordderrex, ohne eine Ahnung, wo sie den gesuchten Rat finden sollte, um ihre Entscheidung zu treffen. Die Stadt präsentierte sich nicht mehr als ein Labyrinth aus Zauber - falls eine solche Beschreibung jemals angemessen gewesen war. Überall herrschte Verwüstung. Die zahllosen Feuer erloschen allmählich, aber der Rauch formte noch immer eine düstere Glocke über dem Trümmermeer. An einigen Stellen drang das Licht des Kometen hindurch, und wo es herabglänzte, saugte es Farben aus der Luft und fügte dem allgemeinen Grau hier und dort Buntes hinzu. Judith hatte kein spezielles Ziel, und deshalb lenkte sie ihre Schritte dorthin, wo die nächsten Farben glitzerten. Die Stelle mochte einen knappen Kilometer entfernt sein, und bevor sie dort eintrafen, brachte der Wind nicht nur einen leichten Nieselregen, sondern auch ein Geräusch mit sich: Wasser plätscherte.
    Voraus war das Pflaster der Straße geborsten, und darunter schien eine Rohrleitung geplatzt zu sein. Oder es handelte sich 1119

    um eine natürliche Quelle. Was auch immer der Fall war: Wasser quoll aus dem Riß empor. Der Vorgang hatte einige Schaulustige angelockt, doch sie wahrten einen respektvollen Abstand. Sie fürchteten nicht etwa, daß der Boden unter ihnen nachgeben mochte, ihre Besorgnis galt einem viel seltsameren Phänomen. Das emporstrudelnde Wasser strömte nicht etwa hang abwärts, sondern in die entgegengesetzte Richtung, nach oben. Kleine Wellen formten sich und sprangen mit der kraftvollen Eleganz von Lachsen über Terrassenstufen. Nur die Kinder ließen sich von diesem Anblick nicht beunruhigen; einige von ihnen überhörten die mahnenden Stimmen der Eltern und spielten in dem Fluß, der den Gesetzen der Schwerkraft trotzte. Manche sprangen darin umher, andere hatten Platz genommen und ließen sich das Wasser über die Beine laufen. Judith glaubte, aus dem vergnügten Quiecken auch sexuelle Zwischentöne herauszuhören.
    »Was ist das?« fragte Hoi-Polloi. Es klang nicht in erster Linie erstaunt, eher empört - als stellte dieser sonderbare Anblick einen persönlichen Affront für sie dar.
    »Vielleicht finden wir eine Antwort, wenn wir dem Wasser folgen«, erwiderte Judith.
    »Die Kinder werden ertrinken«, sagte Hebberts Tochter im Tonfall einer strengen Lehrerin.
    »Soll das ein Witz sein? Hier ist der Fluß höchstens fünf Zentimeter tief.«
    Jude setzte sich in Bewegung; es war ihr gleich, ob Hoi-Polloi zurückblieb oder nicht. Offenbar widerstrebte es der jungen Frau noch immer, allein zu sein, denn sie schloß sich erneut der Besucherin an. Diesmal ging sie neben ihr und hatte ihren Schluckauf plötzlich vergessen. Eine Zeitlang kletterten sie schweigend weiter, und nach etwa hundertfünfzig Metern sahen sie einen zweiten Fluß: Er kam aus einer ganz anderen Richtung, und seine Strömung war stark genug, um Fracht von weiter unten mitzubringen: Kleidungsstücke, ertrunkene 112
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    Grabstinker, halb verkohltes Brot. Aber Jude bemerkte auch andere Objekte, die dem Fluß ganz offensichtlich mit Absicht anvertraut worden waren: Schiffe aus gefaltetem Papier, kleine Kränze aus Gras und Blumen, eine mit

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