Imagica
Kometen bekannt. Aber er hatte keine Ahnung davon. Genauso ist es mit dir und den Göttinnen.«
»Warum fürchtest du dich so sehr?«
»Ohne Angst wäre ich längst tot. Und sei nicht so herablassend zu mir. Ich weiß, daß du mich für lächerlich hältst - du solltest es wenigstens nicht so deutlich zeigen.«
»Ich halte dich nicht für lächerlich.«
»Doch.«
»Nein. Ich glaube nur, daß du deinen Vater zu sehr geliebt 1123
hast. Nun, zuviel Liebe ist sicher kein Verbrechen. Mir unterlief der gleiche Fehler, und zwar nicht nur einmal. Wenn man einem Mann vertraut, muß man auf Enttäuschungen gefaßt sein.« Judith seufzte und schüttelte den Kopf.
»Vielleicht hast du recht. Vielleicht solltest du tatsächlich heimkehren. Möglicherweise wartet Hebbert dort auf dich.
Was weiß ich schon?«
Ohne ein weiteres Wort wandten sich die beiden Frauen voneinander ab. Judith setzte den Weg nach oben fort und bedauerte es, ihren Standpunkt auf eine so wenig taktvolle Weise verdeutlicht zu haben. Nach etwa fünfzig Metern hörte sie Hoi-Pollois Schritte hinter sich, und kurz darauf erklang ihre Stimme. Sie klang jetzt nicht mehr eingeschnappt oder vorwurfsvoll.
»Paps kehrt nicht nach Hause zurück, oder?«
Jude drehte sich um und versuchte, den Blick von Hebberts Tochter einzufangen. Es fiel ihr nicht leicht - Hoi-Polloi schielte zu sehr.
»Nein«, sagte sie. »Ich glaube nicht, daß er zurückkehrt.«
Die junge Frau starrte auf den rissigen Boden zu ihren Füßen. »Das habe ich von Anfang an gewußt. Aber ich wollte es mir nicht eingestehen.« Sie sah auf, und erstaunlicherweise glänzten keine Tränen in ihren Augen. Sie wirkte fast erleichtert, als sei plötzlich eine schwere Last von ihr genommen. »Wir sind beide allein, nicht wahr?«
»Ja, das sind wir.«
»Dann sollten wir uns nicht trennen. Vielleicht brauche ich deine Hilfe. Und du meine.«
»Danke, daß du dabei auch an mich denkst«, sagte Judith.
»Wir Frauen müssen zusammenhalten«, entgegnete Hoi-Polloi und kletterte mit Judith dem fernen Gipfel des Berges entgegen.
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Gentle hatte von Yzordderrex den Eindruck, als litte die Stadt an einem Fiebertraum von sich selbst. Eine dunkle Wolke hing über dem Palast doch die Straßen und Plätze wurden von Wundern heimgesucht. Flüsse strömten aus geborstenem Pflaster, tanzten am Berghang empor und verspotteten dabei die Gravitation. Ein Nimbus aus Farben schimmerte über den jäh entstandenen Quellen, so bunt wie ein Papageienschwarm.
Pie hätte sicher großen Gefallen an diesem Spektakel gefunden. Gentle prägte sich alle Seltsamkeiten fest ein, so daß er die entsprechenden Szenen würde mit Worten malen können, wenn er wieder an der Seite des Mystifs weilte.
Doch es mangelte nicht an Düsterem. Jene Prismen und Fontänen wuchsen inmitten von Verheerung: Klagende Witwen saßen dort zwischen den Trümmern, ließen sich kaum von den rußgeschwärzten Resten ihrer Häuser unterscheiden.
Nur das Kesparat der Eurhetemecs - Gentle stand nun vor den betreffenden Toren - schien von den Brandstiftern verschont worden zu sein; doch nirgends deutete irgend etwas auf Bewohner hin. Der Maestro verweilte einige Minuten lang, dachte dabei an Scopique und fluchte stumm. Dann sah er plötzlich den Mann, den er hier suchte. Athanasius verharrte vor einem der Bäume, die viele Straßen im Kesparat säumten, und maß den Wipfel mit einem bewundernden Blick.
Gentle ahnte den Grund dafür: Einige Äste und Zweige formten ein Kreuz, und vermutlich stellte sich der Priester vor, wie er jemanden - oder sich selbst - dort ans Holz nagelte. Der Rekonziliant trat näher und nannte mehrmals den Namen des Irren. Aber Athanasius war so sehr in Gedanken versunken, daß er ihn nicht hörte; er reagierte erst, als ihn Gentle an der Schulter berührte. Daraufhin sagte er:
»Sie kommen genau zur richtigen Zeit.«
»Für die Selbstkreuzigung?« erwiderte Gentle. »Das wäre ein echtes Wunder.«
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Athanasius drehte sich zu ihm um. Sein Gesicht war bleich, die Stirn blutig. Er betrachtete den Schorf über den Brauen des Maestros und schüttelte den Kopf.
»Ihnen geht's ebenso wie mir«, sagte er und hob die Hände.
Die Innenflächen zeigten unmißverständliche Wundmale.
»Haben Sie auch das hier?«
»Nein. Und dies hier hat nichts mit irgendwelchen Dornenkronen zu tun.« Gentle hob die Hand zur Stirn.
»Warum tun Sie sich so etwas an?«
»Ich trage keine Verantwortung dafür«, entgegnete der Priester.
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