Imagica
Schnee. Im flackernden Licht von Blitzen zeichnete sich die Silhouette eines Mannes ab, der am Fenster stand und nach draußen sah.
»Kannst du dafür sorgen, daß ich vergesse?« vernahm Gentle seine eigene Stimme. »Bist du dazu imstande?«
»Natürlich«, lautete die leise Antwort. »Aber das entspricht bestimmt nicht deinem Wunsch.«
»Ich wünsche mir den Tod - und er entsetzt mich auch. Das ist die einzige wahre Krankheit: Angst vor dem Tod. Ich kann mit dem Vergessen leben; schenk es mir.«
»Für wie lange?«
»Bis zum Ende der Welt.«
Ein weiterer Blitz verbrannte erst die Gestalt am Fenster und dann auch den Rest der Szene. Fort. Vergessen. Gentle blinzelte, woraufhin auch ein Nachbild verschwand, das ihm Fenster und Silhouette zeigte. Die Bewegung der Lider genügte, um den Schlaf zu beenden.
Er spürte Kühle, aber nicht die Kälte des Sterbebetts.
Zacharias setzte sich auf, betrachtete erst seine schmutzigen Hände und blickte dann zum Fenster. Es war noch dunkel draußen, aber erhörte ein beruhigendes Brummen: Verkehr auf der Egdware Road. Die Realität begann bereits damit, den Alptraum zu verscheuchen, und Gentle seufzte dankbar, als die gräßlichen Erinnerungen verblaßten.
Er schob die Decke beiseite und stand auf. Durst lenkte seine Schritte zur Küche, und im Kühlschrank fand er einen Karton mit Milch. Sie schmeckte alles andere als frisch, aber er trank sie trotzdem, obgleich er damit rechnen mußte, sie nicht lange 173
im Magen zu behalten. Anschließend wischte er sich Mund und Kinn ab, bevor er sich dem Gemälde näherte. Die Intensität des Traums, aus dem er gerade erwacht war, schien es zu verspotten. Nein, mit einer derart primitiven Magie konnte er kein Bild des Killers beschwören. Selbst wenn er es hundertmal versuchte: Er hatte nicht die Möglichkeit, Pie'oh'pahs zwiegespaltenes Wesen auf die Leinwand zu bannen. Gentle rülpste, wodurch der Geschmack saurer Milch auf die Zunge zurückkehrte. Was sollte er jetzt unternehmen?
Er dachte daran, sich irgendwo zu verkriechen und sich ganz jener Krankheit hinzugeben, die er dem Anblick des Wesens verdankte. Eine Alternative bestand darin, zu baden, neue Kleidung zu wählen und aufzubrechen, um andere Gesichter zwischen sich und die Visionen in seinem Gedächtnis zu bringen. Nein, das eine hatte ebensowenig einen Sinn wie das andere. Damit stand ihm nur noch ein Weg offen: Er mußte Pie'oh'pah suchen, ihm noch einmal gegenübertreten und Fragen stellen - bis es für Zwiespältigkeit keinen Platz mehr gab.
Gentle starrte auch weiterhin auf das Gemälde, während er über die dritte Möglichkeit nachdachte. Wie sollte er den Killer erreichen? Zuerst ein Gespräch mit Estabrook - kein Problem.
Dann eine Tour durch die Stadt, um jenen Ort zu finden, an den sich Charlie angeblich nicht erinnerte. Auch damit waren keine besonderen Schwierigkeiten verbunden. Immer noch besser als saure Milch und schreckliche Träume...
Vielleicht verlor er seine Entschlossenheit im Licht des Morgens... Auf keinen Fall wollte er jetzt aber der eigenen Skepsis zum Opfer fallen. Zumindest eine Brücke konnte er hinter sich abbrechen... Gentle nahm eine Tube, preßte einen dicken Farb-wurm heraus und schmierte ihn auf die immer noch feuchte Leinwand. Kadmiumgelb fraß die Gestalt mit dem doppelten Gesicht, doch Zacharias war erst zufrieden, als er das ganze Bild ausgelöscht hatte. Zuerst schimmerte die Farbe, doch 174
schon nach kurzer Zeit trübte sich der Glanz - er verlor den Kampf gegen die Dunkelheit, die er bedeckte. Als Gentle fertig war, schien er nie versucht zu haben, Pie'oh'pah in einem Gemälde festzuhalten.
Voller Genugtuung trat er zurück und rülpste erneut. Die Übelkeit in ihm verflüchtigte sich, und er fühlte eine sonderbare Heiterkeit. Vielleicht sollte ich häufiger saure Milch trinken, dachte er.
2
Pie'oh'pah saß auf der Treppe seines Wohnwagens und blickte zum Nachthimmel empor. In den Betten hinter ihm schlief die adoptierte Familie, Frau und Kinder. Weit oben leuchteten die Sterne hinter einer Decke aus natriumfarbenen Wolken. Nur selten in seinem Leben hatte sich Pie so einsam gefühlt. Seit der Rückkehr von New York rechnete er ständig mit Veränderungen. Irgend etwas würde geschehen und erheblichen Einfluß auf ihn und seine Welt ausüben. Aber was?
Die Unwissenheit schmerzte, und dafür gab es zwei Gründe.
Einerseits konfrontierte sie ihn mit dem Empfinden, völlig hilflos zu sein, und andererseits wies sie
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