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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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darauf hin, daß er seinen speziellen Talenten nicht mehr bedingungslos vertrauen konnte. Früher war er imstande gewesen, das Ereignispotential der Zukunft in aller Deutlichkeit zu erkennen, doch jetzt wurde er zum Gefangenen des Hier und Heute. Selbst das Hier, sein Körper, ließ zu wünschen übrig. Der Leib hatte schon seit einer halben Ewigkeit nicht mehr so reagiert wie auf Gentle - er veränderte Form und Struktur, um den Wünschen einer anderen Person gerecht zu werden -, und dadurch verlor er fast diese einzigartige Fähigkeit. Nun, Gentles Begehren stimulierte stark genug, und in Pies Fleisch zitterte noch immer das Echo der gemeinsam verbrachten Minuten. Nur wenige Minuten, aber besser als nichts. Vielleicht bot sich eine solche Gelegenheit nie wieder.
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    Er stand auf, wandte sich vom Wohnwagen ab und wanderte am Rand des Lagers entlang. Das erste Licht des neuen Tages nagte an der Dunkelheit. Eine Promenadenmischung kehrte von seinen nächtlichen Abenteuern zurück, schlüpfte durch die Lücke im Wellblechzaun und näherte sich der Gestalt. Pie streichelte den Hund erst unter der Schnauze, kraulte ihn dann hinter den Ohren und beneidete das Tier. Er wünschte sich, ebenso einfach zu seinem Herrn heimkehren zu können.
    3
    Esmond Bloom Godolphin, der verstorbene Vater von Oscar und Charles, hatte immer wieder darauf hingewiesen, daß ein Mann nie genug Schlupflöcher haben konnte. Zumindest diese Weisheit EBGs blieb nicht ohne Einfluß auf Oscar: Ihm standen gleich vier Domizile in London zur Verfügung. Seine wichtigste Residenz war das Haus auf Primrose Hill, aber er hatte auch eine Absteige in Maida Vale, eine kleine Wohnung in Notting Hill und dies hier: einen fensterlosen Lagerschuppen, umgeben von abbruchreifen Gebäuden am Fluß.
    Diesen Ort suchte er nur ungern auf, erst recht nicht am zweiten Weihnachtstag, aber im Lauf der Jahre hatte sich herausgestellt, daß Dowds beiden Helfern, den Voidern, hier keine Entdeckungsgefahr drohte. Jetzt diente er als Aufbahrungsstätte für den Beschworenen. Der nackte Leichnam lag unter einem Laken auf kaltem Beton, umgeben von aromatischen Kräutern, die an den Hängen von Jokalaylau gesammelt und getrocknet worden waren. Sie schwelten in Schüsseln am Kopf und an den Füßen, wie es die Rituale jener Region vorschrieben. Die Voider zeigten nur wenig Interesse an der Leiche ihres Herrn. Es handelte sich um dienende, fast völlig hirnlose Entitäten, denen physische Bedürfnisse fehlten: Hunger und Durst blieben ihnen ebenso fremd wie Wünsche und Ambitionen. Sie hockten einfach nur im Schuppen, Tag für 176

    Tag, Nacht für Nacht, und warteten auf Anweisungen von Dowd. Oscar fühlte sich in ihrer Nähe alles andere als wohl, doch er brachte es nicht fertig, schon jetzt zu gehen, bevor diese Angelegenheit beendet war. Er hatte etwas zu lesen mitgebracht, einen Kricket-Almanach, mit dem er sich die Zeit vertrieb. Ab und zu stand er auf, um Kräuter in die Schüsseln zu legen; ansonsten gab es kaum etwas zu tun.
    Inzwischen waren schon anderthalb Tage seit der dramatischen Vorstellung im Turm vergangen, die Dowd das Leben gekostet hatte. Godolphin glaubte, auf seine schauspielerischen Leistungen stolz sein zu können, doch der Erfolg forderte einen hohen Preis von ihm. Dowd hatte seiner Familie nicht ›nur‹ zweihundert Jahre lang dienen sollen, sondern bis zum Ende der Zeit - oder bis die Godolphins ausstarben. An seiner Tätigkeit gab es nichts auszusetzen, ganz im Gegenteil. Wer konnte Whisky und Soda besser mixen als er? Wer sonst war imstande, Oscar mit solcher Behutsamkeit zwischen den Zehen zu pudern und damit lästigem Pilzbefall vorzubeugen? Oscar hatte ihn immer für unersetzlich gehalten, und deshalb war es ihm um so schwerer gefallen, die von den Umständen geforderten brutalen Maßnahmen zu ergreifen. Nur ein Gedanke spendete ihm Trost: Es ließ sich nicht ganz und gar ausschließen, daß er seinen treuen Diener für immer verlor, aber Wesen wie Dowd konnten selbst fatale Wunden überleben, wenn das Auferstehungsritual rechtzeitig und richtig durchgeführt wurde. Oscar kannte sich mit den entsprechenden Ritualen aus. Er hatte an vielen yzordderrexianischen Abenden auf dem Dach von ›Sünders‹ Haus gesessen und beobachtet, wie der Schweif des Kometen hinter dem Palast des Autokraten verschwand; dabei sprachen Hebbert und er über Theorie und Praxis der in Imagica gebräuchlichen Methoden, mit denen Körper und Geist verändert, getrennt,

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