Imagica
ein Betthäschen bei sich einquartiert, um während der Weihnachtsfeiertage nicht allein zu sein. Neugier 167
veranlaßte sie dazu, ihre Bitte mit etwas mehr Nachdruck zu wiederholen. Es widerstrebte Gentle sehr, aber natürlich konnte er nicht ablehnen. Jude folgte ihm die Treppe hoch und fragte sich, wie seine neue Eroberung aussehen mochte, doch oben erwartete sie eine Überraschung: Das Atelier war leer. Gentles einzige Gesellschaft bestand aus dem Gemälde, daß die Verantwortung für seine schmutzigen Hände trug. Ganz offensichtlich wollte er nicht, daß Judith es betrachtete, und führte sie mit deutlicher Nervosität zum Bad. Zwar erwies sich ihr ursprünglicher Argwohn als grundlos - es lag keine junge Frau auf der Couch, um für Zacharias die Beine zu spreizen -, aber trotzdem wuchs ihr Unbehagen. Armer Gentle; er wurde immer seltsamer.
Sie entleerte ihre Blase, und als sie die Toilette verließ, hing ein fleckiges Tuch über dem Gemälde. Der Mann daneben schien es gar nicht abwarten zu können, sie zur Tür zu begleiten. Judith beschloß, offen zu sein und auf Takt zu verzichten.
»Arbeitest du an einem neuen Projekt?«
»Es ist nicht weiter wichtig«, sagte er.
»Darf ich mir das Bild ansehen?«
»Es ist noch nicht fertig.«
»Falls es sich um eine Fälschung handeln sollte...« Jude lä-
chelte schief. »Das würde mich kaum schockieren. Ich weiß, was für Aufträge du von Klein bekommst.«
»Es ist keine Fälschung«, sagte Gentle mit einer Schärfe, die sie zum erstenmal bei ihm hörte. »Ich habe nichts kopiert.«
»Ein echter, authentischer Zacharias?« fragte Judith verblüfft. »Dann muß ichdas Gemälde sehen.«
Sie griff nach dem Tuch und zog es beiseite, bevor Gentle sie daran hindern konnte. Bei ihrer Ankunft im Atelier hatte sie nur einen flüchtigen Blick auf das Bild werfen können, noch dazu aus einem Abstand von einigen Metern. Jetzt gewann sie einen viel deutlicheren Eindruck. Gentle schien mit einem 168
Eifer gearbeitet zu haben, der an Wildheit grenzte. An einigen Stellen zeigten sich Löcher in der Leinwand, als hätte er sie mit Palettenmesser oder Pinsel durchbohrt; an anderen war die Farbe zentimeterdick aufgetragen und anschließend mit den Fingern verteilt worden. Was die Darstellung betraf... Zwei Personen, die sich vor dem Hintergrund eines finsteren Himmels gegenüberstanden; in ihrer weißen Haut zeigten sich hier und dort bläuliche Striemen.
»Wer sind diese Leute?« fragte Jude.
»Die Leute?« Es klang so, als sei Gentle von der Interpretation des Bildes überrascht. Mit einem Schulterzucken täuschte er über seine Verblüffung hinweg. »Niemand«, sagte er. »Nur ein Experiment.« Er griff nach dem Tuch und bedeckte das Gemälde wieder.
»Eine Auftragsarbeit?« erkundigte sich Judith.
»Ich möchte nicht darüber reden.«
Gentles Verlegenheit war irgendwie reizend. Jude verglich ihn mit einem Kind, das man bei einem geheimen Ritual ertappt hatte. »Du steckst voller Überraschungen«, kommentierte sie und lächelte.
»Und du überschätzt mich.«
Das Bild war nun wieder unter dem Tuch verborgen, doch Gentle blieb nervös. Judith begriff: Es hatte keinen Sinn, die Diskussion über das Gemälde und seine Bedeutung fortzusetzen.
»Ich gehe jetzt«, sagte sie.
»Danke dafür, daß du mich hierhergebracht hast«, entgegnete Zacharias und begleitete sie zur Tür.
»Was hältst du von dem Drink, zu dem du mich in New York eingeladen hast?«
»Fliegst du in die Staaten zurück?«
»Nicht sofort. Ich rufe dich in einigen Tagen an. Denk an Taylor.«
»Bist du mein Gewissen?« fragte Gentle. Der Humor in 169
seiner Stimme reichte nicht aus, den Ärger zu tarnen. »Ich denke daran.«
»Du hinterläßt Spuren bei anderen Personen, Gentle.
Dadurch trägst du eine Verantwortung, die du nicht einfach so abstreifen kannst.«
»Ich werde versuchen, von jetzt an unsichtbar zu bleiben«, entgegnete er.
Gentle führte Judith nur bis zur Tür des Ateliers. Sie ging allein die Treppe hinunter und fragte sich dabei, aus welchem Grund sie an die Einladung zu einem Drink erinnert hatte. Nun, es war ihr einfach so herausgerutscht. In seinem gegenwärtigen Zustand vergaß Gentle sie vielleicht schon nach einigen Minuten.
Auf der Straße blickte sie am Gebäude hoch, um festzustellen, ob sie Zacharias durchs Fenster beobachten könne. Von der anderen Straßenseite aus war es möglich: Er stand vor dem Gemälde, das jetzt nicht mehr von dem Tuch verhüllt wurde.
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