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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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Aufmerksam betrachtete er es, den Kopf zur Seite geneigt. Judith glaubte zu erkennen, wie sich seine Lippen bewegten. Sprach Gentle mit dem Bild auf der Leinwand? Welche Worte richtete er an sein Werk? Versuchte er, dem Chaos aus Farben Bedeutung zu entlocken? Und wenn das der Fall sein mochte: In welcher fremden Zunge redete er nun?
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KAPITEL 13
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    Judith hatte zwei Personen gesehen, obwohl die Leinwand nur eine zeigen sollte - keinen Er und keine Sie, sondern Leute. Es war ihr gelungen, an Gentles bewußter Absicht vorbei-zublicken und eine geheime Botschaft zu erkennen, die selbst ihm verborgen blieb. Er kehrte nun zum Gemälde zurück, betrachtete es mit ihren Augen und erkannte die beiden Personen ebenfalls. In seinem Bemühen, Pie'oh'pah Gestalt zu geben, hatte er ihn auf folgende Weise gemalt: Der Killer trat aus dem Schatten (oder in ihn hinein), und Dunkelheit floß durch die Mitte seines Gesichts und seinen Torso. Sie teilte den Leib von oben bis unten. Zerfranste Konturen symbolisierten wechselseitige Profilformen, hoben sich mit krassem Weiß von den beiden Hälften dessen ab, was eigentlich ein Gesicht sein sollte. Die beiden Fremden sahen sich fast liebevoll an, und ihre Augen blickten dabei im ägyptischen Stil nach vorn, während die Hinterköpfe mit der Schwärze verschmolzen. Wer waren diese beiden Personen? Was hatte Gentle ausdrücken wollen, als er diese Gesichter so dicht nebeneinander malte?
    Einige Minuten lang starrte er auf das Bild, als erhoffe er sich Antwort von den mysteriösen Gestalten. Gleichzeitig bereitete er sich innerlich darauf vor, erneut nach Palettenmesser und Pinsel zu greifen. Doch als er die Arbeit fortsetzen wollte, merkte er plötzlich, daß ihm die Kraft dazu fehlte. Seine Hände zitterten, und ihm brach der Schweiß aus.
    Darüber hinaus gelang es ihm nicht, das Gemälde erneut aus einer kreativen Perspektive zu sehen. Er wich davor zurück und fürchtete, bereits Geleistetes zu ruinieren, wenn er jetzt versuchte, Einzelheiten hinzuzufügen. Die Essenz eines Bildes entfloh so leicht. Einige ungeschickte Pinselstriche, und die 171

    Ähnlichkeit (mit einem Gesicht, mit dem Werk eines anderen Malers) verschwand, ohne erneut eingefangen werden zu können. Gentle hielt es für besser, die Leinwand in dieser Nacht nicht noch einmal anzurühren. Er beschloß, sich in Geduld zu fassen und auszuruhen, in der Hoffnung, daß er am nächsten Tag über genug schöpferische Kräfte verfügen würde.
    Er träumte von Krankheit. Davon, im Bett zu liegen, unter einem dünnen Laken, so sehr zitternd, daß ihm die Zähne klapperten. Schnee rieselte von der Decke herab und schmolz nicht, wenn er Gentles Haut berührte, denn sie war noch kälter als der weiße Frost. Besucher hielten sich im Krankenzimmer auf, und er wollte sie darauf hinweisen, wie sehr er fror, doch seine Stimme versagte. Die Worte reduzierten sich auf ein unartikuliertes Schnaufen, und das Atmen fiel ihm immer schwerer. Er begann zu befürchten, daß es mit ihm zu Ende gehen, daß ihn Schnee und Atemnot schließlich umbringen würden. Etwas mußte geschehen. Steh auf, verlangte er von sich. Steh auf und zeig diesen Leuten, daß sie zu früh trauern.
    Mit quälender Langsamkeit bewegte er die Hände, tastete nach dem Rand des harten Bettes, um sich in die Höhe zu stemmen. Aber der Todesschweiß bildete eine schlüpfrige Patina auf Matratze und Laken; die Finger glitten immer wieder ab. Furcht verwandelte sich in Panik; Verzweiflung ließ ihn keuchen und röcheln. Gentle trachtete danach, Aufmerksamkeit für seine schreckliche Situation zu wecken, aber die Tür des Krankenzimmers stand weit offen, und die Trauergäste waren gegangen. Er hörte, wie sie in einem anderen Raum miteinander sprachen und lachten.
    Sonnenschein kroch über die Schwelle - im Nebenzimmer war es Sommer. Hier gab es nur mörderische Kälte, die ihn mit jeder verstreichenden Sekunde fester in den Griff bekam.
    Gentle stellte sein Bemühen ein, die Rolle von Lazarus zu spielen, und ließ Hände und Lider sinken. Die Stimmen im anderen Raum wurden zu einem leisen Murmeln, und auch sein 172

    Herz pochte leiser. Andere Geräusche erklangen nun. Draußen heulte der Wind, und Zweige stießen ans Fenster. Jemand betete laut, und eine andere Person schluchzte. Wem und was galt der Kummer? Bestimmt nicht seinem Tod. Er war viel zu unwichtig, um derartiges Jammern zu verdienen. Nach einer Weile öffnete er die Augen. Das Bett war verschwunden, ebenso der

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