Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Imagon

Imagon

Titel: Imagon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marrak
Vom Netzwerk:
öffnete sich vorsichtig die Tür, und die stoppelhaarige Schwester streckte ihren Kopf herein. Sie sagte nichts, sondern tippte nur auf ihre Armbanduhr, ehe sie die Tür wieder zuzog. Wenigstens war sie nicht so taktlos und wartete im Zimmer, bis ich gegangen war.
    Ursprünglich hatte ich vorgehabt, Nauna etwas über das Geschenk zu erzählen, das ich ihr mitgebracht hatte. Es war ein Anhänger an einer Kette; eine dünne, ovale Scheibe aus Metall, kaum größer als ein Daumen. Auf den ersten Blick war sie vollkommen schwarz. Erst wenn man sie gegen das Licht hielt, sah man die leuchtend gelben Einschlüsse aus Olivin-Kristallen. Ich legte den Anhänger in meine linke Handfläche und ertränkte ihn schier in Antiseptikum. Als das Desinfektionsmittel verdunstet war, hob ich vorsichtig Naunas rechte Hand, wickelte die Kette wie einen Rosenkranz um das Gelenk und legte sie zurück aufs Bett, so, dass Naunas Finger den Anhänger umschlossen.
    Dann ging ich.
    Als ich mit meinem Leihwagen über auseinander klaffende Straßenplatten und schlecht oder gar nicht ausgebesserte Schlaglöcher zu dem Hotel zurückfuhr, in dem ich mir für drei Tage ein Zimmer gemietet hatte, wusste ich bereits, dass ich nicht so bald zurückfliegen würde. Ich hatte Naunas Gesicht gesehen, hatte ihn darin gesehen und entschieden, dass ich sie diesen letzten Weg nicht einsam beschreiten lassen würde. Im Autoradio sang der Sänger einer englischsprachigen Band: »In your room, where time stands still or moves at your will, only you exist here …«
     
    Am nächsten Tag rief ich gegen Mittag im Krankenhaus an. Nauna hob bereits nach dem zweiten Läuten ab.
    »Hier ist Poul«, meldete ich mich.
    »Poul! Sie waren gestern Abend hier, nicht wahr?«, fragte sie ohne Umschweife, und ihre Stimme zitterte leicht dabei. »Habe ich recht?« Ich war nicht sicher, ob Nauna erfreut oder verärgert über meinen stillen Besuch war, oder besser gesagt darüber, dass ich mich nicht bemerkbar gemacht hatte.
    »Ja«, antwortete ich zurückhaltend.
    »Oh …«, klagte sie, »warum haben Sie mich denn nicht geweckt?«
    Bingo.
    »Ich dachte – «
    »Ich hätte mich so gefreut, Sie zu sehen«, schnitt sie mir das Wort ab. »Sie einfach nur zu sehen!« Ein Hustenanfall raubte ihr die Stimme. Als er vorüber war, hörte ich sie schwer atmen.
    »Tut es sehr weh?«
    »Geht schon«, wiegelte Nauna mit dünner Stimme ab. »Nicht mehr als gestern, nicht weniger als morgen.«
    Einige Atemzüge lang klang es, als inhaliere sie durch eine Sauerstoffmaske. Dann herrschte fast eine Minute völlige Stille, und schließlich ertönte der Signalton, dass die Leitung unterbrochen worden war. Ich saß – den Hörer immer noch ans Ohr gepresst – auf meinem Bett und starrte eine Fliege an, die über den Teppichboden krabbelte. Die Fantasiemaschine hinter meiner Stirn arbeitete auf Hochtouren, produzierte Kopfkino; Filme über das Sterben, en gros, en detail. Nauna starb zwanzig Tode in zehn Minuten, einer grausamer als der andere. Sie hat nur aufgelegt, überschrie eine Stimme in meinem Kopf das Chaos. Einfach nur aufgelegt. Oder sie hat aus Versehen die falsche Taste gedrückt. Oder die Verbindung ist zusammengebrochen, und der Zeitpunkt war dummerweise der falsche. Das russische Telefonnetz ist marode und überlastet. Leg auf und ruf noch einmal an. Ruf an!
    Ich drückte auf ›Wahlwiederholung‹. Meine Hände waren schweißnass.
    »Poul?«, erklang ihre Stimme sofort nach dem ersten Rufton. Ich atmete durch, entspannte mich. »Poul? Sind Sie dran?«
    »Ja«, bestätigte ich eilig. »Ja, tut mir Leid. Ich dachte …«
    »Das Hörerkabel hat einen Wackelkontakt«, erklärte sie. »Wenn ich den Hörer zu heftig bewege, ist das Gespräch weg.«
    »Aha.« Es fiel mir schwer zu glauben, dass es keine Ausrede war. »Dann bleiben Sie jetzt am besten still liegen, wenn Sie mich nicht noch einmal zu Tode erschrecken wollen.«
    Sie wirkte belustigt. »Waren Sie sehr erschrocken, als Sie mich gesehen haben?«
    »Nein.«
    »Geben Sie es zu, ich erinnerte Sie an einen zusammengeschmolzenen Schneemann.«
    »Mehr an eine Eisprinzessin.«
    Wieder entstand eine dieser unangenehmen Pausen.
    »Ist das ein Amulett?«, fragte sie dann.
    Ich musste kurz überlegen, ehe ich ihrem Gedankensprung folgen konnte. »Es ist ein Stück Kosmos«, erklärte ich. »Eine Scheibe aus einem kleinen Nickeleisen-Meteoriten, der vor sechs Jahren in Grönland gefunden wurde.«
    »Oh«, machte Nauna.
    »Die Einschlüsse

Weitere Kostenlose Bücher