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Imagon

Imagon

Titel: Imagon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marrak
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Objekt im Gegensatz zu jenem, das vor knapp einhundert Jahren über Mittelsibirien explodiert war, die Oberfläche erreicht und diese kilometergroße Wunde ins Eis geschmolzen haben. Ich betone: Geschmolzen, nicht geschlagen.
    Zur Sicherheit entnahm ich an verschiedenen Stellen weitere Eisproben, um sie auf Spuren von Iridium zu untersuchen.
    Dieses Metall kommt in Asteroiden und Kometen vor und bedeckt nach einem Einschlag für gewöhnlich als dünne Schicht den Kraterboden und das Umland.
    Zurück auf dem Gipfel des Mount Umos, ruhte ich mich aus, trank Tee aus der Thermoskanne und ließ meinen Blick schweifen. Ich versuchte mir den Eissee geschmolzen vorzustellen, aufgewühlt, kochend und brodelnd, wie es nach dem Ereignis vor vier Monaten der Fall gewesen sein musste; mit gischtenden Wellen, die der Westwind gegen das Umos-Eiland trieb. Ich stellte mir einen sechs Kilometer großen Kessel vor, siedend, brodelnd, dampfend und wallend, von dessen Klippen Abermillionen Tonnen von Schmelzwasser in die Tiefe stürzten.
    Hier musste für Stunden der größte Wasserfall dieses Planeten getost haben; ein vierhundert Meter hoher ringförmiger Katarakt mit einem Umfang von fast zwanzig Kilometern, dessen Donnern die Ohren betäubt hatte.
    Nun erstreckte sich um mich herum ein erstarrter, in kränkliches Weiß gehüllter Höllenpfuhl. Die klirrende Kälte hatte das Inferno gebändigt. Einzig der Wind trieb Schlieren aus feinen Eiskristallen wie Wellen über den Boden. Und die Kraterwand wirkte so abweisend und kalt wie die eines Krankenhauszimmers.
    Meine Fantasie ließ ein kilometergroßes Bett und zwei fernsehturmhohe Infusionsständer vor meinem geistigen Auge entstehen. In dem Bett lag eine riesige, schneeweiße Frau und blickte in die nebelhaften Zirruswolken, die unmerklich langsam über den stahlblauen Himmel zogen …

 
7
     
     
    Ich hasse Krankenhäuser.
    Krankenhäuser, deren Grundstein irgendwann Mitte des 20. Jahrhunderts gelegt wurde und die ihre Hässlichkeit in dieses neue Jahrtausend gerettet haben. Ich hasse ihren allgegenwärtigen steingewordenen Sachzwang, der ihnen äußerlich wie innerlich anhaftet, der sich auf die Menschen überträgt und sich selbst wie eine schleichende, unheilbare Krankheit in ihren Gemütern ausbreitet. Ihre farblosen Flure erinnern mich an den Winter, und ihre Bewohner an geduldige Verdammte, die jeder für sich ein winziges, quadratisches Purgatorium mit Bett bewohnen.
    In der Fahrstuhlkabine, die mich aufwärts beförderte, stank es nach Teersalbe. Der Mann, der den penetranten Geruch verströmte, stand leicht vornüber gebeugt auf eine Krücke gestützt neben mir und starrte schweigend gegen die fahlgelbe Kabinenwand. Ich atmete flach, hielt einen Blumenstrauß vor meine Nase und versuchte so das Odeur meines Mitfahrers zu kompensieren. Der Mann war um die sechzig und in einen abgetragenen dunkelblauen Trainingsanzug gekleidet. Seine Haut besaß die Farbe der Kabinenwände, seine Wangen waren eingefallen und sein Blick leer, als habe man ihn mit Sedativa vollgepumpt. Seine nackten Füße steckten in Pantoffeln, sein grauer Haarkranz war ungekämmt und stand zu den Seiten ab, als stehe der Alte unter Strom. Während er teilnahmslos gegen die Wand starrte, wanderte mein Blick nervös von seinen Beinen auf die Stockwerkanzeige. Warum ging das so verdammt langsam? Spazierten unter dem Dach zwei Esel im Kreis herum und zogen den Aufzug an einem Radflaschenzug nach oben? Mein Blick glitt von der Anzeige auf die Blüten und zurück auf die Beine des Mannes. Sein linker Oberschenkel war doppelt so dick wie sein rechter, und ich vermutete, dass der Teersalbengeruch seinem dünneren Bein entströmte. An diesem war die Trainingshose fast bis zum Knie hochgekrempelt und ließ dick gewickelte Binden erkennen, die den Oberschenkel bis knapp unter das Knie umhüllten. Ich wollte nicht wissen, welche Art von Wunde sie verbargen.
    Der Aufzug stoppte ruckartig, und Sekunden später glitt endlich die Tür auf. Ich blickte auf ein Schild mit kyrillischen Schriftzeichen, das an der gegenüberliegenden Korridorwand angebracht war, und verließ fast schon überstürzt den Aufzug. Der Teersalbengestank blieb mit dem Alten zurück. Statt dessen umfing mich der nicht weniger unangenehme Geruch von Descosept, Äthanol und Sterillium. Es roch nach Körpern, nach Krankheit und nach Schmerzen, nach Verbänden, unter denen vernähte Wunden und Geschwüre heilten – oder auch nicht. Es war der

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