Imagon
sind Olivin-Kristalle.«
Eine Weile sagte keiner ein Wort.
Dann fragte sie: »Können Sie morgen wiederkommen? Ich möchte Ihnen ebenfalls etwas geben.« Sie wartete eine Weile und fügte hinzu: »Es ist mir sehr wichtig.«
Wir verabredeten uns für den frühen Nachmittag, gleich zu Beginn der offiziellen Besuchszeit. Im Bewusstsein, Nauna bald wiederzusehen, verbrachte ich den angebrochenen Tag damit, durch die Stadt zu streifen, besuchte das Bernsteinmuseum und machte einen Abstecher auf die Kneiphofinsel. Danach schlenderte ich das Pregelufer entlang und beendete meinen Kaliningradbummel mit einem Besuch der staatlichen Kunstgalerie. Ich fragte mich, warum die Beziehung zu einer Frau immer so kompliziert sein muss, und der Tag, an dem man einander begegnet, so unvorhersehbar. Manchmal glaube ich, ein Mann und eine Frau lernen sich nur kennen, wenn Gott mal für einen Moment nicht aufpasst und die kosmische Ordnung durcheinander gerät. Man sagt, Gott würfelt nicht. Ich glaube, er tut es doch; Gott würfelt mit Frauen …
Den gesamten Abend über rätselte ich, was Nauna mir zu geben beabsichtigte. Ihr Tagebuch vielleicht, kam mir in den Sinn. Das wäre nachvollziehbar. Oder ein anderes persönliches Erinnerungsstück.
Als ich am Nachmittag des nächsten Tages die onkologische Station betrat, ließ man mich das Dienstzimmer ungeschoren passieren. Zwei der Betreuerinnen blickten kurz auf, und ich erkannte die stoppelhaarige Schwester wieder. Und meinen Blumenstrauß, der in einer Vase auf einem der Aktenschränke stand. Die beiden warfen sich einen kurzen Blick zu. Eine von ihnen griff zum Telefon, die andere widmete sich, als ich grüßend nickte, wieder ihrem Papierkram.
Aus Zimmer 14 drang das Brummen einer Reinigungsmaschine. Beide Türen standen offen, das Zimmer war bis auf eine Raumpflegerin leer. Es sah nicht so aus, als habe Nauna das Zimmer nur eben mal kurz verlassen. Konnte sie überhaupt laufen? Und eine leisere, intensivere Stimme flüsterte: Hätte sie überhaupt laufen können? Ihr Betttisch war leer, der Laptop verschwunden, ebenso die Infusionsständer. Ihr Bett war mit einer transparenten Plastikfolie überzogen. Ich war in der Innentür stehen geblieben und beobachtete die Wischmaschine. Ich sah nicht die Frau, die sie bediente, hörte auch nicht, ob sie irgendetwas zu mir sagte. Das monotone Brummen wurde immer leiser, bis es vollständig aus meiner Wahrnehmung ausgeblendet war. Ich sah nur noch die Maschine. Es roch, als reinige sie den Boden mit Äthanol, sauberer, immer sauberer. Als tilge sie die letzte Gewissheit, die Spuren, die seine knöchernen Füße hinterlassen hatten, hinweg, hinfort, gedankenrein.
»Herr Silis?«
Ich konnte die Stimme nicht sofort der Realität zuordnen, drehte mich jedoch irgendwann automatisch um und blickte in das Gesicht eines kleinen, älteren Arztes. Dicke Tränensäcke lagen unter seinen Augen, die geröteten, unrasierten Wangen hingen schlaff herab. Seine traurige Physiognomie erinnerte mich an einen Basset. Die Augen des Mannes hingegen blickten hellwach, wenn auch vom Leid und den Schmerzen gezeichnet, die er in diesen Mauern hatte mit ansehen müssen.
»Sind sie Poul Silis?«, wiederholte er geduldig seine Frage. Ich sah ihn weiter an, ohne zu antworten. »Ich bin Dr. Rinov«, stellte er sich vor und reichte mir die Hand. »Sind Sie ein Verwandter von Fräulein Brønlund?«
»Nein. Ein – Freund.«
»Hm, verstehe.«
Sag mir, dass sie nur verlegt wurde, schrie mein Blick. Sag es!
»Sie ist tot, nicht wahr?«, sagte meine Stimme. Sie klang heiser.
Der Arzt schloss zur Bestätigung kurz die Augen. Er warf einen Blick auf das abgedeckte Bett. »Dürfte ich Sie bitten, mich in mein Büro zu begleiten?«
Rinovs Amtszimmer war die berühmte psychologische Oase, ein in fünfzehn Quadratmeter Innenraum gezwängtes Schein-Eden. Blühende Pflanzen als Kontrast zu siechenden menschlichen Körpern, Chlorophyll und Blätter als Gegenpole zu Fleisch und Blut. Visuelles Blendwerk für einen Mann, der es sich zum Lebensinhalt gemacht hatte, Karzinome, Tumore, Neoplasma und Metastasen aus menschlichem Gewebe herauszuschneiden.
Ich hatte vor Rinovs Schreibtisch Platz genommen und betrachtete teilnahmslos die Topfpflanze neben seinem Telefon. Rinov öffnete ein Rollfach, zog eine mit drei geschlossenen Kuverts gefüllte Plastikhülle, an die ein in russisch verfasstes Formular geheftet war, heraus und legte sie vor mir auf den Tisch. Zwei der Kuverts
Weitere Kostenlose Bücher