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Imagon

Imagon

Titel: Imagon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marrak
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schienen Briefe zu beinhalten, der dritte, größere Umschlag enthielt wohl Naunas persönliche Wertgegenstände.
    »Fräulein Brønlund hat mich gebeten, Ihnen das hier auszuhändigen, falls sie … nun ja.«
    Ich nickte. Nun ja … Die beiden Briefe waren an mich adressiert, wobei einer der Umschläge die Aufschrift ›Bitte zuerst diesen Brief lesen!‹ trug. Als ich den dickeren Umschlag öffnete, rutschten mir zwei an Ketten befestigte Anhänger entgegen. Einer davon war der Meteoritensplitter, den ich ihr zwei Tage zuvor in die Hand gelegt hatte. Der zweite Talisman war jener, den ich fortan an meiner Brust trug; eine silberne, eingefasste Sonne mit stilisierten Mandelaugen. Ich schreibe mit Absicht trug, denn ich besitze ihn nicht mehr. Er befindet sich wieder dort, woher er einst kam; irgendwo in der Zeit.
    »Wann ist sie gestorben?«, fragte ich bemüht emotionslos.
    »Heute Morgen, gegen sieben Uhr, nach einer Kaskade.«
    »Bitte?«
    »Multiorganversagen infolge einer Nieren-Insuffizienz. Wir haben alles versucht, aber ihr Kreislauf war zu schwach. Sie hat nicht gelitten.«
    Sie hat gelitten, berichtigte ich Rinov in Gedanken. Unendlich …
    Rinov riss das Formular von der Plastikhülle und zog einen Kugelschreiber aus der Brusttasche seines Kittels. »Sie müssen quittieren, dass Sie diese Gegenstände erhalten haben. Hier bitte.« Er machte ein Kreuz an die entsprechende Stelle und legte das Blatt vor mich auf den Tisch.
    Am liebsten hätte ich statt meines Namens drei weitere Kreuze hinter seins gezeichnet, so beschissen fühlte ich mich. Es kommt nicht oft vor, dass ich meinen Namen falsch schreibe und die Unterschrift dilettantisch korrigieren muss.
    »Was …« Ich musste mich räuspern. »Was passiert mit ihr?«
    »Passiert?« Der Arzt blickte einen Moment verständnislos, dann auf das Formular, als suche er dort die Antwort. »Oh, Sie meinen das weitere Prozedere; Obduktion, Bestattung, et cetera … Nun, aufgrund der Tatsache, dass der Staat die Bestattungskosten übernehmen muss, werden diese niedrig gehalten. Sie erhält ein Gemeindegrab.«
    »Und das bedeutet?«
    »Einäscherung und Urnenbestattung. Aber letzteres zumindest auf einem Areal, das ihre Identität verrät.«
    Ich starrte apathisch auf den Inhalt der Plastikhülle. Dann öffnete ich mit zitternden Händen ihren Verschluss und zog die Kette mit dem Meteoritensplitter heraus. »Würden Sie bitte veranlassen, dass man dieses Stück der Asche beilegt, ehe sie bestattet wird.«
    Dr. Rinov nahm den Meteoritensplitter entgegen und drehte ihn in seinen Fingern. »Ich werde dafür sorgen, dass Ihrem Wunsch entsprochen wird«, versprach er. »Aber ich muss ein Formular aufsetzen, dass Sie diesen Gegenstand zu diesem Zweck zurücklassen, und so weiter.«
    Zwanzig Minuten später fuhr ich mit dem Fahrstuhl wieder ins Erdgeschoss. Nachdem sich die gläserne Ausgangspforte hinter mir geschlossen hatte, schmeckte ich einen widerlichen Geschmack auf der Zunge; nach Verbranntem, nach Desinfektionsmittel und nach Tod. Ich verspürte den dringenden Wunsch, ihn hinunterzuspülen, unendlich tief hinab, aus dem Sinn, aus der Erinnerung. Ich las Naunas ersten Brief noch im Krankenhauspark. Dann kaufte ich mir ein paar Lebensmittel, zwei Schachteln Zigaretten und zwei Flaschen Wodka. Anschließend fuhr ich zurück ins Hotel, verlängerte meine Reservierung, verkroch mich in mein Zimmer und soff mich drei Tage lang zu.

 
8
     
     
    Ich schloss die Augen und saß eine Weile in mich gekehrt auf dem Berggipfel. Dann zog ich mir die Schneebrille vom Gesicht und massierte meine Augen. Meine Muskeln waren durch das lange Sitzen steif vor Kälte.
    Eine Stunde später hatte ich den Großteil meines Proviants verbraucht und stapfte gedankenversunken ›nach Hause‹. Bei meinem Frachtcontainer angekommen, verstaute ich die leeren Geräteboxen flugsicher in seinen Tiefen. DeFries, den ich wie erwünscht über meine Rückkehr informiert hatte, half mir beim Verladen. Im Gegensatz zu mir trug er keine Handschuhe, hatte seinen Parka geöffnet und seine Schneebrille an ihrem Gummiband um den Hals baumeln. Er wirkte erschöpft, und die Ringe unter seinen Augen schienen in den letzten Stunden wesentlich dunkler geworden zu sein, fast, als habe die Arbeit in der Eishalle auch ein Gros an Lebensenergie aus seinem Körper gewaschen, die nun mit dem Schmelzwasser dampfend Richtung Kratermitte davon strömte.
    »Sie sehen müde aus«, bemerkte ich, nachdem wir die Seitenwand

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