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Imagon

Imagon

Titel: Imagon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marrak
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des Containers runtergeklappt hatten und er abflugfertig verschlossen war.
    DeFries zuckte mit den Schultern. »Bad vibrations«, scherzte er, in offensichtlicher Anspielung auf den Kompressor. »Der Lärm und die heiße Feuchtigkeit rauben einem den letzten Nerv.« Er sah mich prüfend an. »Und selbst? Kopfschmerzen?« Ich verzog die Lippen. »Das macht der Luftdruck«, meinte DeFries und gähnte. »Sie sollten besser nach oben gehen und sich von Paamit einen Mineraliencocktail mixen lassen.«
    Ich runzelte die Stirn, DeFries massierte sich den Nacken. Dabei senkte er den Kopf, und ich konnte einen Blick in den Ausschnitt seines Rollkragenpullovers werfen, dessen weiter Kragen nach vorne fiel. DeFries trug etwas um seinen Hals. Ich konnte nicht sehen, was es war, nur die Lederschnur, an der es befestigt sein musste.
    Diese Entdeckung erregte meine Aufmerksamkeit, denn ich kannte DeFries als einen Menschen, der Körperschmuck missbilligte, egal, ob es sich dabei um Ringe, Ketten, Armbänder oder Tätowierungen handelte.
    Ich ließ mir nichts anmerken, als mein Gegenüber den Kopf wieder hob und schweigend erst über das Eis, dann ruckartig zurück zum Gebäude starrte, als habe er von dort einen stummen Ruf vernommen.
    »Waren Sie schon …?«, begann DeFries, vollendete die Frage jedoch nicht, sondern deutete auf den dampfenden Schmelzwasserstrom.
    »Nein, ich -«
    Das ferne Schlagen von Trommeln ließ mich verstummen. Ich sah zuerst suchend über den Eissee, dann hinauf in Richtung Station. Dort, wo ich die Iglus vermutete, säumten über ein Dutzend Eskimos den Kraterrand. Vier von ihnen schlugen große Handtrommeln und intonierten gemeinsam mit den anderen einen monotonen, kanonartigen Singsang, der gespenstisch zu uns herabdrang.
    »Wer sind die denn?«, fragte ich verdutzt.
    »Talalinqua und sein Gefolge.« DeFries zog sein Funkgerät und gab eine Anweisung auf Grönländisch. An der Grabungsstätte regte sich nichts, daher nahm ich an, dass er jemanden im Lager informiert hatte. »Sie zelebrieren das jeden Tag um dieselbe Zeit«, erklärte er, als er das Funkgerät wieder einsteckte. »Ist so eine Art Freiluft-Angakokfest.«
    »Ein was?«
    »Eine Geisterbeschwörung. Talalinqua – der Kerl mit der Eisbärenmaske in der Mitte – ist ein Angakoq; ein notorisch sauertöpfischer Schamane, dessen Geist schon gelebt haben will, als Babylon noch ein Traum seiner Architekten war. Er tauchte vor acht Tagen hier auf. Wenn wir nicht aufpassen, wird der Krater noch zu einem Wallfahrtsort.«
    Ich sah zweifelnd nach oben. »Und wen beschwören sie am helllichten Tag?«
    »Den helllichten Tag«, grinste DeFries. Sein Lächeln wirkte jedoch gequält. »Genauer gesagt: Fortuna. Sie beschwören die Sonne, nicht unterzugehen.«
    Ich hob die Augenbrauen. »Zumindest für die nächsten zwei Wochen dürften sie damit Erfolg haben.«
    DeFries schnaubte. »Nun gut«, sagte er, »kümmern Sie sich nicht weiter darum. Ich muss wieder an die Arbeit. Falls Sie dem Schluckloch noch einen Besuch abstatten wollen, so folgen Sie einfach dem Schmelzwasser. Gehen Sie aber nicht zu nah an die Öffnung ran. Wir sehen uns heute Abend? Ich interessiere mich brennend für Ihre Theorie – oder was dann noch von ihr übrig ist.« Er klopfte mir auf die Schulter und trottete davon. »Und kommen Sie mir nicht hinterher!«, rief er über seine Schulter zurück.
    Ich sah ihm nach, bis er in den Tunnel hinabgestiegen war, dann ließ ich meinen Blick nach rechts wandern, zu dem dampfenden Schmelzwasserbach. Ich bin nicht besonders religiös. Ehrlich gesagt verschwende ich kaum einen Gedanken an Religion. Die Bibel kenne ich nur bruchstückhaft, aus Kindertagen, als meine Mutter mir abends daraus vorlas. Aber in dem Augenblick, als DeFries in der Tiefe verschwunden war und ich auf den heißen Quell blickte, kamen mir unzusammenhängende Textstellen in den Sinn, die die unmittelbare, unwirkliche Stimmung widerspiegelten: Ein Strom entspringt im Garten Eden … er ist es, der das gesamte Land umfließt … Gott setzte die Menschen an seine Ufer, damit sie den Garten hüten, und sprach: Von den Früchten aller Bäume dürft ihr essen, nur von den Früchten des Baumes, der in der Mitte steht, haltet euch fern. Denn sobald ihr davon esst, werdet ihr sterben …
     
    DeFries hatte die Wahrheit gesagt. Zugegeben, ich war angesichts seiner Beschreibung eines Schlucklochs hin- und hergerissen gewesen zwischen Skepsis und Verärgerung; Skepsis hinsichtlich des

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