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Imagon

Imagon

Titel: Imagon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marrak
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beklemmende Geruch, der Besucher in vielen Krankenhäusern erwartet. In westeuropäischen Kliniken war er mir nie so intensiv vorgekommen wie hier. Ich hatte in meinem Leben schon etliche Krankenhäuser von innen gesehen. Jene, in denen es so durchdringend gerochen hatte wie auf dieser Station, stehen allerdings in Südostasien oder Afrika.
    Ich hingegen befand mich in Kaliningrad.
    Schon der Pförtner am Haupteingang hatte mich mit gleichgültigen, verdrießlichen Augen angesehen, als ich die Klinik betreten und ihn mit hörbarem Akzent begrüßt hatte. Nach seiner teilnahmslosen Frage, zu wem ich wolle, und meiner Entschuldigung für mein schlechtes Russisch hatte er nur Luft geholt und den Kopf geschüttelt.
    »Br0nlund«, hatte er den von mir genannten Namen schwerfällig wiederholt und ihn in seinen Computer eingetippt. »Onkologie. Station 5. Dritter Stock. Zimmer 14.« Dann hatte er die Blumen in meiner Hand betrachtet, als hätten sie seinen Appetit angeregt, und amüsiert die Augenbrauen gehoben.
    Nun stand ich auf dem Krankenhausflur der onkologischen Station und suchte auf dem Hinweisschild irgendwelche Zeichen, die mich zu Nauna führten. Als ich einsah, dass ich die kyrillische Schrift auch nach langem intensivem Starren nicht besser würde lesen können, begann ich den Flur hinabzulaufen und mich an den Zimmernummern zu orientieren. Der Fahrstuhl hatte mich neben Zimmer Nummer 58 ausgespuckt.
    »Iswinitje …?«, vernahm ich eine gedämpfte Stimme hinter mir, als ich am Bereitschaftszimmer vorbeikam. »Minutitschku!«, erklang es nun deutlicher, begleitet von raschen Schritten. Ich wandte mich um und sah eine der Krankenschwestern aus dem Dienstzimmer herbeieilen. »Komu wuij chotschetje?«, fragte sie.
    »Sprechen Sie englisch?« Ich hätte es mir auf die Stirn tätowieren sollen.
    Die Frau antwortete etwas Unverständliches, was mir wohl bedeuten sollte, zu warten, und lief zurück in den Bereitschaftsraum. Kurz darauf erschien eine ihrer Kolleginnen auf dem Flur. Beim Herankommen setzte sie sich eine randlose Brille auf, die zuvor an einer Kette vor ihrer flachen Brust gehangen hatte.
    »Wo wollen Sie hin, bitte?« Ihr Akzent verlieh ihren Worten den Klang von reißendem Blech.
    »Zimmer 14.«
    Die Frau schüttelte ihren blonden, stoppelhaarigen Kopf. Sie war hager, hatte schmale, blutleere Lippen und eine viel zu lange Nase.
    »Aber nicht damit«, schnappte sie und deutete auf die Blumen in meiner Hand. »Tut mir Leid.«
    Ich sah erst sie, dann den Strauß entgeistert an. »Das sind nur Blumen.«
    »Tut mir Leid«, wiederholte die Schwester. »Für mich sind das in erster Linie Infektherde. Das hier ist ein keimfreier Bereich.« Sie fixierte den Strauß in einer Art, die mich hoffen ließ, nicht sofort mit einer Desinfektionswolke aus dem Sprühspender konfrontiert zu werden. »Warten Sie bitte hier«, wies sie mich an, nachdem ich ihr die Blumen ausgehändigt hatte, und verschwand im Bereitschaftszimmer.
    Neben mir öffnete sich eine Tür. Ich beobachtete einen Pfleger, der einen Rollstuhl herausschob. In ihm saß ein zusammengesunkener Mann, der nach Jahren kaum älter sein konnte als ich. Seine Augen starrten geradeaus, sein Blick ging ins Leere. Ein Infusionsständer war am Rollstuhl angebracht, ein dünner Plastikschlauch führte unter eine Decke, die über dem Schoß des Mannes lag. Pfleger und Patient verschwanden wenige Meter entfernt in einem Lift.
    »Sind Sie ein Angehöriger von Fräulein Brønlund?«
    Ich drehte mich um. Die Schwester mit dem Stoppelhaar stand hinter mir und sah mich skeptisch an. Ich hatte sie nicht zurückkommen hören.
    »Nein, ein … Freund.«
    »Die Besuchszeiten sind mittwochs und freitags.«
    »Hören Sie, ich …«
    »Ja, ja, ja«, machte die Frau und wedelte ungeduldig mit der Hand. »Eine halbe Stunde können Sie rein, aber nicht länger. Ausnahmsweise. Kommen Sie.« Ich folgte ihr zu einer gläsernen Trenntür mit der mehrsprachigen Aufschrift ›Umkehrisolation‹. »Sind Sie erkältet?«, fragte sie beiläufig. »Leiden Sie an einer Infektion der Atemwege?«
    »Nein.«
    Die Schwester zögerte einige Sekunden und musterte mich, als hoffe sie, dass mich ein Räuspern oder Husten verriet. »Gut«, meinte sie schließlich und schob die Glastür auf. »Sonst kann ich Sie hier nicht reinlassen. Fräulein Brønlunds Leukozyten wurden durch die Therapie vollständig zerstört. Bereits ein harmloser Reizhusten könnte verheerende Folgen für sie haben.« Sie blieb

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