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Imagon

Imagon

Titel: Imagon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marrak
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Wahrheitsgehalts der Geschichte und Verärgerung darüber, dass sie offenbar nur dazu diente, mich abzulenken und weit fort von der Grabungsstätte zu wissen. Aber das Loch existierte tatsächlich.
    Ich war zu dem dampfenden Tümpel gelaufen, der sich im Laufe der Tage um die Schlauchmündung herum gebildet hatte. Das Wasser, das beim Austreten noch mindestens vierzig Grad warm war, hatte hier eine etwa knietiefe und vielleicht zehn Meter breite Senke geschmolzen. Da aus dem Schlauch, der am Grund der Senke träge hin und her wiegte, nicht nur Wasser, sondern auch Luft gepumpt wurde, erweckte der Tümpel den Eindruck einer warmen, brodelnden Quelle. Nach Südwesten hin hatte das davonströmende, bereits wesentlich kühlere Wasser mittlerweile eine gut dreißig Zentimeter tiefe Fließrinne ins Eis gegraben. Zwanzig Meter weiter war das Wasser nur noch handwarm, und nach fünfzig Metern bereits eiskalt. Aber es blieb, wie DeFries es beschrieben hatte, flüssig. Allem Anschein nach vermischte es sich in der Halle beim Schmelzen mit irgendeiner noch unbekannten Substanz, die sein Gefrieren verhinderte. Aber was in aller Welt befreiten DeFries und seine Mannschaft dort unten vom Eis? Eine prähistorische Schnapsdestille? Ich nahm eine Probe des Schmelzwassers und verstaute sie in der Kühlbox, die ich bei mir trug.
    Der Strömungskanal war inzwischen wesentlich niedriger geworden, nur noch fingertief, dafür jedoch annähernd zwei Meter breit. In ihm rann das Schmelzwasser als wenige Millimeter tiefer Film lautlos über den Eissee, weiter und weiter hinaus und ohne ein dem menschlichen Auge ersichtliches Ziel.
    Ich hatte Mühe, durch die Schneebrille den Strömungsverlauf des Wassers nicht aus den Augen zu verlieren. Lediglich einen in ein kälteisolierendes Futteral gepackten Laptop und die Kühlbox trug ich im Rucksack bei mir. Die Zeit bis zu Hansens Eintreffen wollte ich nach meiner Rückkehr ins Lager damit verbringen, gewisse Gedankengänge zu Ende zu führen und meine handschriftlich und stichwortartig festgehaltenen Beobachtungen in aller Ausführlichkeit zu übertragen. Da es erst kurz nach fünf war und Hansen mit der Libelle gegen neun ankommen wollte, blieb mir, so hoffte ich, genug Zeit, um dieses Vorhaben nach meinem Ausflug zu dem ominösen Eisloch auszuführen.
    Als irgendwann vor mir ein Rauschen hörbar wurde und ich wenige Schritte später tatsächlich vor dem Schluckloch stand, stockte mir der Atem. DeFries hatte es mit einer Gletschermühle verglichen, einem jener tiefen, senkrechten Schächte im Gletschereis, in die sich Sturzbäche aus sommerlichem Schmelzwasser ergießen. Doch gegenüber DeFries’ Beschreibung einer drei Meter großen Öffnung gähnte vor mir ein Schlund von mindestens fünf Metern Durchmesser. Wenige Schritte vor dem Abgrund hatte sich der Strömungskanal des Wassers wieder verengt und eine tiefe, am Ende kaum mehr armdicke Spalte ins Eis gewaschen, sodass der Schmelzwasserstrom in einer Tiefe von fast zwei Metern in das Schluckloch mündete.
    Ich ließ mich auf alle Viere nieder, doch trotzdem erfüllte mich eine namenlose Angst, als ich mich dem Abgrund näherte. Schließlich legte ich mich auf den Bauch, robbte nach vorne, schob mein Gesicht über die Kante und sah hinab …
    Ich kann im Nachhinein nicht sagen, wie lange ich so dagelegen hatte. DeFries hatte behauptet, der Gesteinsboden, das eigentliche Festland, beginne acht- oder neunhundert Meter unter uns. Es war nicht sonderlich tief, wenn man bedachte, dass sich das grönländische Inlandeis an seinen mächtigsten Stellen über 3000 Meter hoch auftürmt. Ich hatte in den senkrechten Schlund aus blau leuchtendem Eis geblickt, dessen spiralige Wände sich in den Mittelpunkt der Welt zu winden schienen, und die Zeit vergessen. Zu überwältigend war der Anblick gewesen, der die ältesten, am tiefsten verwurzelten menschlichen Ängste heraufbeschwor. Die Sonne hatte noch über dem Kraterrand gestanden, und das beinahe kristallklare Eis hatte ihr Licht in der Tiefe gebrochen. Achtzig Meter tief, so war es mir vorgekommen, hatte ich hinabblicken können, vielleicht sogar einhundert. Vielleicht war es aber auch nur eine Illusion gewesen, so weit unten noch das stürzende Wasser erkennen zu können. Doch dann – dann hatte nur noch Finsternis geherrscht.
    Finsternis und bodenlose Tiefe …
     
    »Was halten Sie davon?«
    Broberg reagierte nicht sofort auf meine Frage. Als er Sekunden später kurz aufsah, bewegten sich seine

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