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Imagon

Imagon

Titel: Imagon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marrak
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DeFries vor dem Wohncontainer mit jemandem sprach, sich anschließend aber nur eine Person entfernte. Das Tuckern des Dieselmotors einer Schneeraupe begleitete mich in den Schlaf.
     
    Ein lautloser Flug, ein sanftes Gleiten. Ich schwebte über schroffe Berggipfel, den Blick unablässig nach vorne gerichtet, war ein Auge ohne Körper. Abermals stieg ich weder höher empor noch sank ich tiefer hinab ins Tal, als trennten mich vom Firmament und dem unwirtlichen Land unter mir zwei unsichtbare Barrieren, die ich nicht zu durchdringen vermochte. Mein Flug schien vorherbestimmt, eine sich fortwährend wiederholende Reise auf derselben Route, weiter und weiter, einem unbekannten Ziel entgegen.
    Die Landschaft unter mir hatte sich verändert: Das Tal, dem ich folgte, war nicht mehr unter Hunderten von Metern Schnee und Eis begraben, sondern grün und von blühender Vegetation bedeckt. In der Ferne sah ich ein Meer, und über dem Horizont den Vollmond. Entlang eines sich durch den Talgrund schlängelnden Flusses schwebte ich zwischen den schroffen, schwarzen Gipfeln hindurch und näherte mich allmählich einem gewaltigen Gebäudekomplex, dessen verschachteltes Quaderwerk wie von Geisterhand getragen an einer Bergflanke über dem Abgrund hing. Ohne Macht über die Richtung meines Fluges trieb ich unaufhaltsam auf die Steilwand zu.
    Der hängende Palast wirkte, als hätten ihn rauschverwirrte Architekten entworfen und wider alle Logik erbaut, eine exomorphe Konstruktion, die sämtliche Sinne verwirrte. Obwohl alle Mauern winkelgenau zusammenpassten, schienen sie nicht zusammenzugehören. Balkone, Fassaden und Terrassen, alles war auf eigenartige Weise krumm, schief und verzerrt und bar jeglicher Geometrie. Weit unter dem Palast drängte sich – wie ein furchtsam an den Fuß der Steilwand gekauertes Tier – ein Dorf gegen die Bergflanke. Es bestand aus einer Hundertschaft gedrungener Rundzelte, zwischen denen sich schweigsame, in grobe Kleidung gehüllte Menschen bewegten. Ein Fest schien auf dem leicht abschüssigen Grünland zwischen Dorf und Fluss vorbereitet zu werden, und ich sah Feuerstellen in einem weiten Kreisrund brennen.
    Auf den Vorbauten des hängenden Palastes drängten sich monströse Wesen. Sie erinnerten an übergroße, fette Menschen in farbenprächtigen Gewändern, und es wirkte, als befänden sich mehrere von ihnen gleichzeitig unter einer Tracht, wie Schauspieler eines chinesischen Neujahrsfestes, die sich zu mehreren unter einem Drachenkostüm verbergen. Acht oder zehn gedunsene, weiße Beinpaare zählte ich, die unter einem jeden Gewand hervorlugten. Die Wesen glichen riesigen, gedrungenen Larven, die ihre Vorderkörper aufgerichtet hatten und hinab ins Tal starrten. Dann wandten sie ihre unförmigen Köpfe und blickten mir entgegen, während ich unentrinnbar auf sie zuschwebte …
     
    Das Rotorgeräusch, das mich aufschrecken ließ, war heller und schwirrender als das satte Knattern von Hansens Libelle, fast so, als lasse ein heranstürmender Riese wütend seine Bola wirbeln. Ich vergrub meinen Kopf unter dem Kissen und wünschte, die Maschine würde in der Luft explodieren.
    Als der Helikopter gelandet und der Lärm der Rotoren abgeflaut war, warf ich vom Bett aus einen kurzen Blick durch das Fenster. Das Wetter hatte umgeschlagen. Formloses Grau bedeckte den Himmel, wanderte wie zähflüssiges Blei über die Landschaft. Die Wolkendecke hing tief über dem Eis und hatte den Gipfel des Mount Breva verschluckt. Ich hatte das Gefühl, am gesamten Körper von einer schleimigen Substanz bedeckt zu sein, doch meine Haut war trocken und heiß, wie unter leichtem Fieber. Noch immer plagten mich Kopfschmerzen. Zwar nicht mehr so bohrend wie tags zuvor, aber heftig genug, um mir die Stimmung zu vermiesen. Der Radiowecker zeigte 10 Uhr 17. Ich fror, als hätte ich am Grund des Kraters schlafgewandelt. Mein Magen schmerzte von den Tabletten, und ich bildete mir ein, dass dieser widerlich-klebrige Film auf meiner Haut jegliche Wärme von mir abhielt. Wie eine Köcherfliege verkroch ich mich minutenlang in meinem Schlafsack, ehe ich mich endlich schlecht gelaunt aus dem Bett quälte. Ich ließ die Fenster verhängt, brühte mir im kalten Halbdunkel eine Kanne Tee auf, mischte ihn halb mit aufgewärmter Milch und trank drei Tassen hintereinander. Alles in mir sträubte sich, einen Fuß vor die Tür zu setzen, meine Arbeit wieder aufzunehmen und dabei ein Teil des bleiernen Graus und der Kälte zu werden.

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