Imagon
Lippen, ohne dass ein Ton zu hören war. »Das ist in der Tat außergewöhnlich«, kam seine Stimme schließlich mit Verzögerung aus dem Lautsprecher neben meinem Laptop. Broberg hing bereits wieder gedankenversunken über den Ausdrucken der Fotografien, die ich mit einer Digitalkamera geschossen hatte. »Das Schmelzwasser kann es nicht erschaffen haben. Es muss schon vorher da gewesen sein.«
»Da stimme ich Ihnen zu.«
Ich hatte unmittelbar nach meiner Rückkehr ins Lager eine Intercomverbindung nach Kopenhagen hergestellt und Broberg via Satellit ein halbes Dutzend Aufnahmen des Schmelzwasserkanals und des Schlucklochs gesandt. Obwohl ich mich bereits seit einer halben Stunde wieder im Wohncontainer aufhielt, fühlte ich mich noch immer vom Blick in den Abgrund ergriffen. Eine innere Kälte erfüllte mich und ließ mich zittern. Ich hatte mir neben dem Schluckloch eine Zigarette angezündet und beobachtet, wie der Zigarettenrauch in einer weiten, abfallenden Spirale hinabdriftete. Dennoch hatte ich keinen Luftsog gefühlt. Der Rauch schien auf die gleiche, noch unerklärliche Weise in das Loch gezogen worden zu sein wie das Schmelzwasser. Während Broberg weiterhin aufmerksam die Fotoausdrucke studierte und hin und wieder auf einem zweiten Monitor bestimmte Bildausschnitte des Schlucklochs vergrößerte, schilderte ich ihm das Phänomen.
»Es existiert kein Sog?«, fragte er zweifelnd. »Sind Sie sicher?«
»Nicht völlig. Ich kann mich nur auf mein Gespür verlassen.« Broberg schürzte seine Unterlippe und atmete tief durch. Dann setzte er seine Brille ab und massierte seine Augen. Völlig unsynchronisiert zu seinem Bildschirm-Konterfei sagte er: »Sie denken das Gleiche wie ich, habe ich Recht? Ihrer Theorie zum Trotz …«
Ich verzog das Gesicht. »Etwas ist dort unter dem Eis«, nickte ich. »Es …« Ich sah in die Webcam, sodass es Broberg vorkommen musste, als blicke ich ihm direkt in die Augen. »Es ist fast schon fühlbar! Es zieht die Elemente und die Sinne an. Als ich in diesen Abgrund blickte, hatte ich eine Sekunde lang sogar das Bedürfnis, mich über den Rand gleiten zu lassen und … wie das Wasser und der Rauch …« Ich sah auf meine zitternden Hände.
»Sie sollten versuchen, ein paar Stunden zu schlafen«, riet mir Broberg, nachdem wir eine Weile geschwiegen hatten. »Finden Sie heraus, was dort unter dem Eis vor sich geht. Warten Sie notfalls auf Chapmann, der morgen früh von S0ndre Str0mfjord aus eintreffen wird. Er bringt gutes Equipment mit. Schicken Sie mir jedoch unverzüglich die Daten der Schmelzwasseranalyse.« Nun war es Broberg, dessen Blick zur Webcam wanderte. »Und passen Sie auf sich auf, Poul.«
Ich schluckte zwei starke Schmerztabletten, trank dazu eine Flasche Mineralwasser und legte mich aufs Bett. Das Codeinphosphat betäubte nicht nur den bohrenden Kopfschmerz, sondern machte mich zugleich schläfrig und auf eigenartige Weise euphorisch. Mit geschlossenen Augen den Ereignissen des Tages nachhängend, lauschte ich den Aktivitäten im Lager; dem Brummen eines rangierenden Motorschlittens, dem sporadischen Hundegebell, den Gesprächsfetzen, die sich näherten und wieder entfernten, dem Knattern der sehr spät eintreffenden Libelle …
Von der Geschäftigkeit im Lager wach gehalten, kochte ich mir irgendwann eine Dosenmahlzeit und löffelte das Essen gierig in mich hinein. Das Rotorengeräusch verstummte zweimal für längere Zeit, als der Helikopter im Krater verschwand. Nachdem es zum ersten Mal wieder laut wurde, wusste ich, dass Hansen meinen Container ins Lager flog. Beim zweiten Mal startete die Libelle direkt aus dem Krater heraus und entfernte sich langsam in unbestimmte Richtung. Vielleicht hatte Hansen den reparierten Motorschlitten in den Krater transportiert.
DeFries steckte kurz vor Mitternacht seinen Kopf in meinen Wohncontainer. Ich hatte Decken und Anoraks vor die Fenster gehängt, um die Mitternachtssonne auszusperren, und war bereits in einen Dämmerschlaf gefallen. Als sich die Tür öffnete, schreckte ich auf und blinzelte DeFries benommen an. Er wirkte bleich und abgezehrt, als habe man ihm mehrere Liter Blut abgezapft. Als er erkannte, dass ich den Raum abgedunkelt und mich bereits hingelegt hatte, nickte er mir stumm zu, murmelte: »Ihr Container ist im Geräteschuppen«, wünschte mir eine erholsame Nacht und zog die Tür von außen wieder zu. Eisige Kälte hatte sich in den wenigen Sekunden in den Raum geschlichen. Ich hörte, wie
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