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Imagon

Imagon

Titel: Imagon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marrak
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des Hinabkletterns beschlich mich das Gefühl, der gesamte Mount Breva sei ausgehöhlt wie ein gigantischer Termitenhügel. Von manchen Räumen führten übermannsgroße, spaltartige Öffnungen ins Gestein, doch waren sie zu schmal, als dass ein Mensch hätte hindurchschlüpfen können. Drei oder vier solcher Spalten klafften jeweils nebeneinander in den Wänden und erinnerten an monströse Haifischkiemen. Seltsamerweise gelangten wir nie in einen Raum mit mehreren Ausgängen oder stießen auf eine Verzweigung. Der Tunnel mündete stets seitlich in einen neuen Raum und führte in der Mitte des Bodens diagonal weiter in die Tiefe. Ich erinnerte mich an die Balkone und Terrassen, die den Tempelkomplex in meinen Träumen geschmückt hatten. Außer den eigenartigen Spalten fand ich bisher keine Hinweise darauf, dass es einen Zugang dorthin gab – falls die Balkone in der Realität überhaupt existierten.
    Die Länge der Tunnelabschnitte zwischen den einzelnen Räumen betrug zwischen dreißig und sechzig Metern. Mittlerweile besaßen die Räume und Klausen, in die wir gelangten, keine Öffnungen mehr nach ›draußen‹, was bedeutete, dass wir uns bergeinwärts bewegten. Zudem kam mir die Architektur mit zunehmender Tiefe vor, als habe eine Riesenfaust vor Urzeiten den Berg gepackt und durchgeschüttelt; alles war schief und schräg, nirgendwo gab es mehr einen rechten Winkel, falls sich hier und dort überhaupt noch Ecken oder Kanten finden ließen. Sämtliche Räume waren leer und schmucklos. Wir fanden weder Spuren einstigen Lebens noch Rückstände von Tieren oder Kadaver. Keine Spinnweben, keine Insekten, kein Staub. Mancherorts sahen die Wände, Decken und Böden aus wie satiniert.
    Im Schacht zwischen dem fünften und dem sechsten Raum passierte das Missgeschick mit Talalinqua. Der Schamane verlor in seinen plumpen Kamiken unerwartet das Gleichgewicht, rutschte aus und stürzte etwa vier Meter den Gang hinab. Nach dem ersten Schreck stellte sich heraus, dass er sich dabei lediglich den Fußknöchel gebrochen oder zumindest so stark verstaucht hatte, dass an ein gemeinsames Weiterklettern nicht mehr zu denken war. DeFries trug Maqi auf, Talalinqua zum Ausgang zurückzubringen, da der Inuit von uns allen der kräftigste war. Sobald er den Schamanen oben ›abgeliefert‹ hatte, sollte er – sicherheitshalber mit einem Seil ausgerüstet – uns nachfolgen und wieder aufschließen, derweil DeFries und ich langsam weiterklettern würden, solange sich der Tunnel nicht verzweigte.
    »Er wird mindestens eine Stunde brauchen«, gab ich zu bedenken, während wir zusahen, wie Talalinqua – von Maqi gestützt – auf einem Fuß den Schacht hinaufhüpfte. »Wenn ihm beim Abstieg etwas zustößt, ist er völlig auf sich allein gestellt.«
    »Unterschätzen Sie Maqi nicht«, kommentierte DeFries meine Besorgnis.
    »Überschätzen Sie ihn nicht«, konterte ich. »Er kann sich das Genick brechen wie jeder andere auch.«
     
    Nach weiteren vier durchmessenen Räumen gelangten DeFries und ich völlig unerwartet in eine riesige Kaverne. Von ihren Ausmaßen überwältigt, blieb ich wenige Schritte hinter dem Eingang stehen und ließ den Strahl meiner Taschenlampe durch die Halle wandern. Doch selbst als wir die Kegel beider Lampen in eine Richtung lenkten, verlor sich das Licht in der Ferne, ohne die gegenüberliegende Wand aus der Dunkelheit zu schälen. Als ich die Taschenlampe hob, um die Höhe der Halle abzuschätzen, überkam mich der plötzliche Drang, mich zu ducken und in den schützenden Tunnel zurückhechten. Das Gestein schien in dem Augenblick, als es vom Strahl der Lampe aus der Dunkelheit gerissen wurde, herabzuzucken. DeFries äußerte einen Fluch und machte eine erschrockenen Bewegung rückwärts, was mich vermuten ließ, dass ihm Ähnliches widerfahren war. Das Echo seiner Stimme geisterte für Sekunden durch die Halle, ehe es so abrupt verstummte, als habe etwas in dunkler Ferne den Widerhall verschluckt.
    Die Höhlendecke lag etwa zwanzig Meter über uns und wirkte wie eine abstoßende, von Blasen übersäte, erstarrte Flüssigkeit. Zum Inneren der Höhle hin stieg die Decke sanft an, was mich vermuten ließ, dass sie eine Art Kuppeldach bildete. Aufgrund der Tatsache, dass unsere Taschenlampen absolut nichts in der Ferne erfasst hatten, war mir dieser Gedanke nicht sonderlich geheuer.
    »Wofür halten Sie das?« DeFries Stimme war gedämpft, als fürchte er, etwas zu wecken, das in der Dunkelheit lauerte.
    »Ich

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