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Imagon

Imagon

Titel: Imagon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marrak
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eindringliche Rufe, aber ich ignorierte sie.
    Atemlos erreichte ich schließlich den Rand der Mulde und leuchtete hinab in die Tiefe. Die Höhlung war kreisrund und besaß einen Durchmesser von mehr als dreißig Metern. Ihre Wände fielen in schrägem Winkel mehrere Meter ab, was ihr ein trichterartiges Aussehen verlieh, darunter folgte Schwärze. Es war wie der Blick in einen Sternenlosen Kosmos, so, als stünde ich über einem lichtlosen Abgrund, in dessen Unendlichkeit sich der Schein der Lampe verlor. Doch der Eindruck täuschte, denn die Senke war nicht leer.
    Die Schwärze in ihr bewegte sich, wogte unruhig mal nach hier und mal noch dort. Zungenartige Ausläufer leckten sanft über die Trichterwände, und dort, wo der Lichtkegel auf die abscheuliche Masse traf, wölbte diese sich einwärts, als versuchte sie, der Helligkeit auszuweichen. Diese Bewegungen waren es, die jenes fremdartige Flüstern erzeugten, das nun klang, als lauschte ich durch eine riesige Muschel dem Rauschen eines fernen Meeres. Mir war kaum bewusst, dass ich meinen Kopf langsam hin und her wiegte, während ich das Wogen der Schwärze betrachtete. Als Finsternis ruht der Wächter Ninniraqa vor den Toren Qurs …
    »Poul«, hörte ich DeFries rufen. »Was ist los mit Ihnen?«
    Ich schüttelte nur den Kopf.
    »Können Sie etwas erkennen?«
    »Ja«, antwortete ich nach einer Weile tonlos. »Die Wahrheit… Der Taaloq erzählt die Wahrheit …«
    Der Schein von DeFries Lampe tanzte um mich herum. »Schauen Sie nicht hin, Poul!« In seiner Stimme lag beschwörende Hysterie. »Hören Sie mich? Gehen Sie dort weg, verdammt!«
    Warum?, antwortete ich in Gedanken. Ich stehe vor meinem Gral. Er ist gefüllt mit dem Blut der Älteren Götter. Ein einziger Schritt nach vorn, und ich kann von ihm trinken …
    Während ich wie hypnotisiert in die Tiefe starrte, wuchs unvermittelt etwas aus der Schwärze heraus. Das Flüstern wurde zu einem durchdringenden Zischen, als sich das augenlose Etwas wie ein riesiger Wurm vor mir aufbäumte. Ich nahm unmittelbar hinter mir Schritte wahr, die plötzlich stockten, und glaubte DeFries einen entsetzten Laut ausstoßen zu hören. Ich selbst starrte wie in Trance auf das Ding vor mir, unfähig, mich zu bewegen. Du warst schon immer ein Kind ohne Zeichen!, explodierte die Stimme meines Vaters in meinem Kopf. Du Bastard!
    Dann zuckte der Wurm vor, schlang sich eisig um meinen Brustkorb und riss mich hinab in die Finsternis …

 
     
     
TEIL VIER
     
     
BOREA

 
13
     
     
    Ich glaube, es war der Wind, den ich hörte.
    Sein Pfeifen und Rauschen waren die einzigen Geräusche, die ich wahrnahm. Vielleicht träumte ich auch nur von ihm. Ein Traum von der Finsternis und dem Wind. Du fällst, raunte die Stimme in meinem Kopf. Es geht unendlich weit hinab, tiefer und tiefer. Ja, du fällst und träumst vom Wind. Ich versuchte meine Augen zu öffnen, konnte aber meine Lider nicht bewegen. Waren sie geschlossen oder bereits offen? Ich wusste es nicht. Dunkelheit. Allenthalben Dunkelheit. Schwarzer Wind.
    Der Wind klang, als wehe er um schroffe Bergflanken, heule durch tiefe Klüfte und streiche über karge Felshänge – nicht aber über meinen Körper. Ich fühlte den Wind nicht. Er war nicht bei mir. Oder bewegte ich mich mit ihm? War ich zu seinem Element geworden, eins mit ihm? Schwebte ich? Oder lag ich zerschmettert am Boden eines unfassbaren Abgrunds?
    Ich war ein Ruhepol. Bewegungslos. Empfindungslos. Spürte keinen Herzschlag. Nahm weder Kälte noch Wärme wahr, als besäße ich keine Haut, die sie zu fühlen vermochte.
    Ich hörte nur den Wind …
    Ein zweites Erwachen. Noch immer war ich unfähig, mich zu bewegen, aber ich schaffte es zumindest, meine Augen zu öffnen. Ich sah die Sterne. Im selben Moment, in dem ich sie erblickte, hoffte ich, dass es wirklich Sterne waren, die über mir funkelten … Mein Atem ging ruhig und gleichmäßig und gab mir die Gewissheit, am Leben zu sein. Aber ich konnte nichts fühlen. Absolut nichts. Konnte keinen Finger krümmen, nicht einmal die Lippen bewegen. Womöglich hatte ich mir beim Sturz das Rückgrat gebrochen. Mein Körper war wie gelähmt. Ich konzentrierte mich auf meine Hände, aber dort war nichts. Ich versuchte den Kopf zu drehen, doch mein Körper blieb wie versteinert. Hoffentlich war er nicht nur eine Illusion.
    Ich lauschte dem Gesang des Windes und betrachtete die Sterne.
    Du bist gefallen, Akademiker. Der Wächter hat dich verschlungen. Wieso also liegst du

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