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Imagon

Imagon

Titel: Imagon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marrak
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beiden Inuit schienen vor der Öffnung in der Zeit erstarrt zu sein. Selbst der Nebel ihres Atems wirkte, als hänge er auf der Stelle. Ich betrachtete ihre versteinerten Gesichter, dann meine zitternden Hände und schickte mich schließlich an, DeFries zu folgen. Talalinqua schlich bereits vor mir lautlos durch den Tunnel. Für einige Sekunden blieb ich noch einmal stehen und suchte die speichelbefleckte Stelle an der Wand, konnte sie aber nicht entdecken.
    Der Gang beschrieb einen weiten Bogen, und das Licht des in den Tunnel gerichteten Strahlers entzog sich langsam meinen Blicken. Vor mir war niemand mehr zu sehen und zu hören, worauf aufflackernde Panik mich meine Schritte beschleunigen ließ. Dann entdeckte ich einen ersten an die Wand gezeichneten Pfeil und stieß wenige Meter weiter auf DeFries.
    »Was ist los?« Er leuchtete mich an. »Ist Ihnen nicht gut?«
    »Doch, doch, alles bestens.« Ich trat so nah an ihn heran, wie es mir möglich war, ohne dabei indiskret zu wirken.
    »Sie sollten Ihre Augen sehen, Poul. Sie blicken wie ein gehetztes Tier.« DeFries kritzelte einen zweiten Pfeil an die Wand. Ihre Oberfläche glänzte im Licht der Taschenlampen, ähnelte einer porösen Glasur, fast so, als habe etwas Monströses den Tunnel durch den Fels geschmolzen.
    Die Röhre führte nach etwa fünfzig Metern in einen weiteren großen Raum, in dem Maqi und der Schamane bereits auf uns warteten. Hier erkannte ich eine Besonderheit, die uns schon beim Betreten des Tempels hätte auffallen müssen. Dass ich es erst jetzt bemerkte, lag womöglich an der Tatsache, dass ich den Raum nun aus entgegengesetzter Richtung betrat. Er war ebenfalls mit einem mannshohen Fenster (oder einer Tür?) versehen. Die Öffnung, die vor langer Zeit vermutlich einen Blick ins Tal gewährt hatte, lag von Eis verschlossen vor uns. Eigenartig war jedoch, dass der Raum dennoch vollkommen eisfrei und trocken war. Trotz der Tatsache, dass der Gletscher vor Monaten geschmolzen sein musste, war nicht das dünnste Rinnsal ins Innere geflossen. Als spiegelglatte Eismauer stand das Eis vor der Öffnung und wölbte sich dabei keinen Zentimeter weit in den Raum, fast so, als ob das Wasser von einer unsichtbaren, unüberwindlichen Barriere zurückgehalten worden wäre. Der Boden war vollkommen trocken; so trocken, dass ich vermutete, nicht ein einziges Wassermolekül im Gestein zu finden, würde ich es zu Staub zermahlen.
    In der Mitte des Raumes führte ein übermannsbreiter Schacht wie ein gigantischer Abfluss diagonal in die Tiefe. Rippenförmige, an versteinertes Narbengewebe erinnernde Auswüchse bedeckten die Tunnelwände.
    »Womöglich wurde der Schacht vor langer Zeit von einer Holztreppe oder einer Leiter durchzogen«, überlegte DeFries und leuchtete in die Tiefe. »Wahrscheinlich ist sie im Lauf der Jahrtausende verrottet.«
    »Wie kann etwas ohne Feuchtigkeit verrotten?«, entgegnete ich.
    »Ja, seltsam …«, gestand DeFries. »Sehen Sie mal.« Er spuckte auf den Boden und beleuchtete die Stelle mit seiner Lampe. Es dauerte keine zehn Sekunden, und der Speichel war verschwunden. Talalinqua kommentierte das Phänomen mit einem Zischen, Maqi grunzte. Die Flüssigkeit war nicht einfach im Boden versickert, sondern vollkommen von ihm absorbiert worden. Verwundert ging ich in die Hocke und betrachtete die Stelle.
    »Vielleicht ist das des Rätsels Lösung«, meinte DeFries und betrachtete das Eis jenseits des Fensters. »Nur in verkleinerter Dimension. Womöglich sind ungeheure Mengen Wasser in diesen Raum geströmt« – sein ausgestreckter Finger wies auf die Öffnung im Boden – »und dort hinabgeflossen, wohin auch immer. Mit dem Rest geschah dasselbe wie mit meinem Speichel.«
    »Nein, ausgeschlossen«, entschied ich. »Nichts Natürliches ruft einen derartigen Effekt hervor.«
    DeFries ließ sich nicht gänzlich von seiner Hypothese abbringen, unternahm aber auch keinen weiteren Versuch, sie zu untermauern. Statt dessen machte er sich vorsichtig daran, in den Schacht hinabzuklettern, und ehe ich es verhindern konnte, war er in der Tiefe verschwunden. Ein Seil, dachte ich alarmiert. Keiner von uns trug ein Seil bei sich …
     
    Meine Befürchtung, irgendwann im Laufe unserer Exkursion vor einem gähnenden Abgrund zu stehen, erwies sich zunächst als unbegründet. Der Schacht führte etwa vierzig Meter in die Tiefe, wurde dann wieder eben und mündete in einen neuen Raum, in dessen Bodenmitte sich wiederum ein Schacht öffnete. Während

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