Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Imagon

Imagon

Titel: Imagon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marrak
Vom Netzwerk:
in die Grube und brach unweigerlich auseinander. Die beiden Eskimos machten entschuldigende Gesten, Hagen sah verärgert auf den Hammer in seiner Hand.
    Als das letzte Klirren der Splitter verstummt war, herrschte für Sekunden erdrückende Stille. Alle Blicke hingen an dem gähnenden schwarzen Spalt, und jeder von uns malte sich in seiner Fantasie aus, was sich jenseits der Passage befinden mochte. Warme, unbeschreiblich riechende Luft wehte aus der Öffnung in unsere schweißnassen Gesichter. Es kam mir vor, als ob sie nach Tausenden und Abertausenden von Jahren der Gefangenschaft in einem uns fremden und unbegreiflichen Akt der Freude aus der Öffnung quoll. Ihr Geruch war nicht einmal unangenehm, sondern nur – alt. Unvorstellbar alt.
    Kurz darauf standen wir zu fünft in der Senke. DeFries’ Blicke hafteten gespannt auf mir, als erwartete er einen krankhafthysterischen Gefühlsausbruch meinerseits. Ich beruhigte ihn mit einem ernsten Kopfschütteln, worauf sich seine lauernden Züge entspannten. Dennoch blieb ein Funken Skepsis in seinen Augen zurück. Er knipste seine Taschenlampe an, richtete den Strahl in die Öffnung und schälte einen großen, leeren, aus nackten Steinwänden bestehenden Raum aus der Dunkelheit.
    Talalinqua murmelte etwas Unverständliches. Er zog sich die Kapuze vom Kopf und stieg nun – von Maqis Hand gehalten – ebenfalls zu uns herab. Mit der Brust an meinen Rücken gedrückt, spähte er an meinem Kopf vorbei in das nahezu quadratische Gelass. Maqi hingegen zeigte keine erkennbare Spur von Interesse oder Neugier. Er stand mit herabhängenden Armen neben mir und kam mir zunehmend vor, als sei auch er ein wandelnder Toter, den DeFries’ Männer im Laufe der Grabungen im Eis entdeckt, aufgetaut und wiederbelebt hatten.
    »Onoqa …«, flüsterte der Schamane. »Onoqa.«
    Ohne zu verstehen, was er sagte, ahnte ich, was er auszudrücken versuchte. Ich spürte ebenfalls dieses lockende, zwingende Gefühl, das immer intensiver wurde und die innere Stimme erstickte, die mir zuschrie, mich umzudrehen und davonzurennen. Ich wünschte mir eine Rüstung und eine Revolverkanone, um gegen alles und jeden, der sich aus der Tiefe des Tempels auf mich stürzte, gewappnet zu sein. Doch dieses Bedürfnis verflog. Ich war besessen ab dem Augenblick, in dem ich meinen Fuß vorsichtig auf den Boden des Tempelinneren setzte. Die letzten Funken nagender Furcht erstarben, und in mir erwachte etwas Fremdartiges, Ungezügeltes, Gieriges.
    Von mehreren den Weg weisenden Lichtkegeln begleitet, lief ich einige Schritte in die Halle hinein, ehe ich einen Blick zurück warf. DeFries hatte den halben Meter Bodenunterschied ebenfalls überwunden und nahm die Atmosphäre in sich auf wie eine Katze. Andächtig stand er im Raum und lauschte mit allen Sinnen. Jeder von uns schien zu ahnen, was im Kopf des anderen vorging, doch keiner wagte zu sprechen. Wahrscheinlich waren wir die ersten Menschen, die je in diesen Raum vorgedrungen waren – vielleicht sogar die ersten lebenden Wesen überhaupt, die einen Fuß ins Innere des Tempels gesetzt hatten …
    Nachdem Talalinqua und kurz darauf auch Maqi den Raum betreten hatten, reichte man uns einen der großen Scheinwerfer hinein, den wir unmittelbar neben dem Eingang platzierten. Das blendende Licht riss eine gänzlich schmucklose, aus nacktem Felsgestein bestehende Halle aus der Dunkelheit. Von der etwa zehn Meter entfernt gelegenen Wand gegenüber dem Eingang führte ein röhrenförmiger Gang von über drei Metern Durchmesser in die Tiefe des Berges wie ein prähistorischer Metro-Tunnel. Für einen verschwindend kurzen Augenblick hatte ich jene widernatürlichen Traumkreaturen vor Augen, dann war die Vision wieder verschwunden. Was blieb, war ein unmerkliches Zittern und Herzklopfen.
    DeFries zog mehrere Stifte Ölkreide aus seiner Tasche und überreichte jedem von uns einen davon. Ich testete, ob Wände und Boden das Wachs annahmen und verstaute die Kreide in der Tasche meines Anoraks. DeFries lief derweil ein paar Schritte in den Tunnel hinein und studierte die Beschaffenheit der Wände.
    »Das ist seltsam …«, hörte ich ihn murmeln. Er spuckte an die Wand und strich mit den Fingerspitzen durch den Speichel. »Kommen Sie, Poul, sehen Sie sich das an.« Doch er wartete nicht, sondern folgte weiter dem Gang. Maqi trottete ihm wortlos hinterher, ohne die Wand zu betrachten.
    Als ich einen Blick zurück zum Ausgang warf, verkrampfte sich etwas in mir. Hagen und die

Weitere Kostenlose Bücher