Immortalis
als Archäologe und Historiker vom Haldane Institute vorgestellt, einem Forschungszentrum, das der Brown University angeschlossen war. Er hatte ihr erzählt, er sei in Jordanien gewesen, als ein Kollege Evelyns Erkundigungen über den Uroboros erwähnt habe. In den dunklen Zeiten, als es noch kein Internet gab, bestand die Forschung unter anderem darin, dass man Bibliotheken aufsuchte und Experten zu Rate zog, indem man tatsächlich mit ihnen sprach – und schockierenderweise nicht selten von Angesicht zu Angesicht. Er sagte, er sei mit dem Auto herübergekommen, um sie zu sehen und mehr über ihre Entdeckung zu erfahren.
Sie hatten vier Wochen miteinander verbracht.
Sie untersuchten die Gewölbe, studierten die Schrifttafeln und illustrierten Folianten, folgten zahlreichen Spuren durch die Bibliotheken und Museen von Bagdad und besuchten Forscher und Historiker.
Die Kalligraphie der Texte deutete zweifelsfrei darauf hin, dass sie in der Zeit der Abbasiden entstanden waren, etwa im zehnten Jahrhundert. Die Karbondatierung des Lederriemens eines der Folianten bestätigte diese Vermutung. Handschrift und Illuminationen waren wunderschön. Die Texte handelten von vielfältigen Themen: Philosophie, Logik, Mathematik, Chemie, Astrologie, Astronomie, Musik und Spiritualität. Aber ein Hinweis auf den Autor oder die Bedeutung des Symbols der schwanzfressenden Schlange war nicht zu finden.
Evelyn und Webster teilten die Leidenschaft für ihre Arbeit, und für kurze Zeit schienen sie auf einem vielversprechenden Weg zu sein, als sie plötzlich auf Informationen über eine obskure Gruppe aus derselben Gegend stießen: die Brüder der Reinheit. Wer genau die Brüder gewesen waren, konnte man nur mutmaßen, denn über sie war wenig bekannt. Man wusste nur, dass sie neoplatonische Philosophen gewesen waren, die sich alle zwölf Tage im Verborgenen trafen. Ihr geheimnisumwobenes Vermächtnis umfasste ein bemerkenswertes Kompendium aus wissenschaftlichen spirituellen und esoterischen Lehren der verschiedensten Traditionen, das als eine der ältesten bekannten Enzyklopädien galt.
Teilweise passten die in der Kammer gefundenen Schriften in Stil und Inhalt zu dem, was die Brüder der Reinheit hinterlassen hatten, aber keines der Bücher enthielt Hinweise auf den Glauben derer, die diese Kammern benutzt hatten. Die Schriften der Brüder wurzelten zwar im Islam, aber sie enthielten auch Lehren aus dem Evangelium und der Thora. Die Brüder waren Freidenker, die keinem speziellen Glauben anhingen, sondern die Wahrheit in allen Religionen suchten. Die wahre Nahrung der Seele sahen sie im Wissen. Sie strebten nach Versöhnung, nach der Verschmelzung aller sektiererischen Strömungen, von denen die Region geplagt wurde – in der Hoffnung, eine offene spirituelle Zuflucht für alle zu erschaffen.
Evelyn und Webster hatten darüber spekuliert, ob der Zirkel, der in den unterirdischen Gewölben getagt hatte, vielleicht ein Ableger der Bruderschaft gewesen sein könnte, aber es gab nichts, was diese Theorie bewies oder widerlegte. Man vermutete allerdings, dass die Brüder der Reinheit in Basra und Bagdad beheimatet gewesen waren. Al-Hillah lag genau dazwischen.
Während der ganzen gemeinsamen Zeit war Evelyn nicht entgangen, wie unerschütterlich Websters Interesse war, und es hatte sie verblüfft, mit welch grenzenloser Energie und Tatkraft er sich bemüht hatte, Licht in das kleine Geheimnis zu bringen, das sie da zutage gefördert hatte. Für jemanden, von dem sie noch nie gehört hatte, schien er außerdem eine Menge über den Uroboros und die Geschichte dieser Region zu wissen.
Sie verliebte sich in ihn und war ziemlich sicher, dass er ihre Gefühle erwiderte. Sein plötzlicher Abschied war deshalb umso schwerer zu verkraften gewesen – vor allem angesichts dessen, was er ihr hinterlassen hatte, und der Lüge, mit der sie seitdem lebte.
Trauer überkam sie, als die Erinnerungen an diese schmerzhafte Trennung zurückkehrten. Nie wieder hatte sie für einen Mann so viel empfunden. Aber die Hinnahme, die sie all die Jahre lang geübt hatte, verdrängte das melancholische Gefühl und brachte sie zurück ins Hier und Jetzt.
Ein paar illuminierte Seiten aus der Kammer des Geheimzirkels, betörend in ihrer rätselhaften Schönheit, hingen eingerahmt an der Wand vor ihrem Schreibtisch. Sie riss sich von ihrem Anblick los und holte den Stapel Polaroids hervor, den Faruk ihr überlassen hatte. Sie zog das Bild des alten Buches heraus,
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